Landschaftsvergesslichkeit
Der Gletscher schmilzt, wird jede Woche ein wenig kleiner, aber wenn ich direkt vor dem Gletscher lebe, wird mir das vielleicht nicht auffallen. Die Kinder wachsen, werden jede Woche ein wenig größer, aber wenn ich mit den Kindern unter einem Dach den Alltag teile, werde ich die Veränderungen vielleicht nicht so wahrnehmen. Eine Besucherin jedoch, die nach zehn Jahren wieder einmal ins Gletschergebiet kommt, wird schockiert sein, wenn sie das Ausmaß der Schrumpfung sieht; ihr Bezugspunkt ist „der Gletscher vor zehn Jahren“, da ist der Kontrast zur Gegenwart deutlich. Ähnlich mag es einem Bekannten gehen, der alle zwei Jahre eine Familie besucht und das Wachstum der Kinder als drastisch offenkundig erlebt.
Dieses Phänomen hat der Geograf Jared Diamond „landscape amnesia“genannt, „Landschaftsvergesslichkeit“oder „Landschaftsvergessenheit“. Wir vergessen, wie etwas vor längerer Zeit ausgesehen hat, weil wir mit den Veränderungen tagtäglich leben. Das trifft auf unsere Wahrnehmung von Landschaft und Natur, aber auch für unsere Einschätzung von sozialem Leben und Politik zu. Hier kann man von „schleichender Normalisierung“sprechen. Wenn wir uns die Berichte vom Spätsommer 2015 über Notreisende und Flüchtlinge ansehen und mit der publizierten Stimmung heute vergleichen, werden wir staunen; wenn wir die Kultur des Weißen Hauses vom Sommer 2016 mit der Kultur des Weißen Hauses im Sommer 2018 vergleichen, werden wir auf gewaltige Unterschiede stoßen. Wenn wir das Agieren der österreichischen Bundesregierung zu diesen beiden Zeitpunkten miteinander vergleichen, werden wir an den Differenzen nicht vorbeikommen. Es ist eine wirklich lohnenswerte Übung, die Äußerungen eines einzelnen Politikers zu verfolgen, vielleicht im Vergleich „Politiker in Oppositionsrolle“und: „Politiker in Regierungsverantwortung“. Auch hier tun sich Gräben kund.
Viele kleine Veränderungen verschieben die Grenzen dessen, was als akzeptabel gilt. Viele kleine Veränderungen ermöglichen den aufhaltsamen Aufstieg eines Menschen, eines Begriffs, einer Wertvorstellung, die zu Gesetzesveränderungen führt. Die vielen kleinen Veränderungen erfolgen unmerklich, schleichend, ständig, „im Fluss der Zeit“. Irgendwann war Sklaverei im öffentlichen Bewusstsein und im Alltagsleben von Menschen als akzeptabel verankert. Und irgendwann war dem nicht mehr so. Das ist eine Frage der lauten Opposition, es hat aber auch damit zu tun, wie Menschen im Alltag miteinander reden und umgehen. Nicht nur laute Politik, sondern auch leiser Alltag ermöglichen Veränderung. Das NSDokumentationszentrum in München hat an einer Stelle auf die vielen Schritte aufmerksam gemacht, die die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger mehr und mehr unter Druck setzten. Jeder Schritt für sich betrachtet (hier eine Meldepflicht, dort eine Berufsausübungserschwerung) mag in seiner Auswirkung und Begründungspflicht überschaubar scheinen. Jeder Schritt jedoch verschiebt die Grenzen des Vorstellbaren, Annehmbaren, Machbaren.
Mike Foster hat vom „death by a thousand cuts“geschrieben, vom „Tod durch tausend Schnitte“. Es lohnt sich, die kleinen Schritte und Schnitte sorgsam zu beobachten und ihnen Gewicht beizumessen. Wo stehen wir jetzt? Und: Wie sind wir dahin gekommen? Clemens Sedmak ist Philosoph und Theologe.