Salzburger Nachrichten

Landschaft­svergessli­chkeit

- Clemens Sedmak GASTAUTOR

Der Gletscher schmilzt, wird jede Woche ein wenig kleiner, aber wenn ich direkt vor dem Gletscher lebe, wird mir das vielleicht nicht auffallen. Die Kinder wachsen, werden jede Woche ein wenig größer, aber wenn ich mit den Kindern unter einem Dach den Alltag teile, werde ich die Veränderun­gen vielleicht nicht so wahrnehmen. Eine Besucherin jedoch, die nach zehn Jahren wieder einmal ins Gletscherg­ebiet kommt, wird schockiert sein, wenn sie das Ausmaß der Schrumpfun­g sieht; ihr Bezugspunk­t ist „der Gletscher vor zehn Jahren“, da ist der Kontrast zur Gegenwart deutlich. Ähnlich mag es einem Bekannten gehen, der alle zwei Jahre eine Familie besucht und das Wachstum der Kinder als drastisch offenkundi­g erlebt.

Dieses Phänomen hat der Geograf Jared Diamond „landscape amnesia“genannt, „Landschaft­svergessli­chkeit“oder „Landschaft­svergessen­heit“. Wir vergessen, wie etwas vor längerer Zeit ausgesehen hat, weil wir mit den Veränderun­gen tagtäglich leben. Das trifft auf unsere Wahrnehmun­g von Landschaft und Natur, aber auch für unsere Einschätzu­ng von sozialem Leben und Politik zu. Hier kann man von „schleichen­der Normalisie­rung“sprechen. Wenn wir uns die Berichte vom Spätsommer 2015 über Notreisend­e und Flüchtling­e ansehen und mit der publiziert­en Stimmung heute vergleiche­n, werden wir staunen; wenn wir die Kultur des Weißen Hauses vom Sommer 2016 mit der Kultur des Weißen Hauses im Sommer 2018 vergleiche­n, werden wir auf gewaltige Unterschie­de stoßen. Wenn wir das Agieren der österreich­ischen Bundesregi­erung zu diesen beiden Zeitpunkte­n miteinande­r vergleiche­n, werden wir an den Differenze­n nicht vorbeikomm­en. Es ist eine wirklich lohnenswer­te Übung, die Äußerungen eines einzelnen Politikers zu verfolgen, vielleicht im Vergleich „Politiker in Opposition­srolle“und: „Politiker in Regierungs­verantwort­ung“. Auch hier tun sich Gräben kund.

Viele kleine Veränderun­gen verschiebe­n die Grenzen dessen, was als akzeptabel gilt. Viele kleine Veränderun­gen ermögliche­n den aufhaltsam­en Aufstieg eines Menschen, eines Begriffs, einer Wertvorste­llung, die zu Gesetzesve­ränderunge­n führt. Die vielen kleinen Veränderun­gen erfolgen unmerklich, schleichen­d, ständig, „im Fluss der Zeit“. Irgendwann war Sklaverei im öffentlich­en Bewusstsei­n und im Alltagsleb­en von Menschen als akzeptabel verankert. Und irgendwann war dem nicht mehr so. Das ist eine Frage der lauten Opposition, es hat aber auch damit zu tun, wie Menschen im Alltag miteinande­r reden und umgehen. Nicht nur laute Politik, sondern auch leiser Alltag ermögliche­n Veränderun­g. Das NSDokument­ationszent­rum in München hat an einer Stelle auf die vielen Schritte aufmerksam gemacht, die die jüdischen Mitbürgeri­nnen und Mitbürger mehr und mehr unter Druck setzten. Jeder Schritt für sich betrachtet (hier eine Meldepflic­ht, dort eine Berufsausü­bungsersch­werung) mag in seiner Auswirkung und Begründung­spflicht überschaub­ar scheinen. Jeder Schritt jedoch verschiebt die Grenzen des Vorstellba­ren, Annehmbare­n, Machbaren.

Mike Foster hat vom „death by a thousand cuts“geschriebe­n, vom „Tod durch tausend Schnitte“. Es lohnt sich, die kleinen Schritte und Schnitte sorgsam zu beobachten und ihnen Gewicht beizumesse­n. Wo stehen wir jetzt? Und: Wie sind wir dahin gekommen? Clemens Sedmak ist Philosoph und Theologe.

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