Salzburger Nachrichten

Taiwan übt die „digitale Demokratie“

Vor allem die Jungen wollen in einem freien Land leben und betonen den Gegensatz zum autokratis­chen China.

- Taiwan unter Druck

TAIPEH. Peking und Taipeh haben sich zwar darauf verständig­t, dass sowohl die Volksrepub­lik China als auch Taiwan zu „einem China“gehören. Allerdings gibt es unterschie­dliche Interpreta­tionen in der Frage, was darunter konkret zu verstehen sei.

Für Chinas Machthaber ist klar, dass Taiwan ein Teil ihres Reiches ist, und sie handeln auch danach. Die Regierung in Taipeh soll folgsam sein. Peking setzt ökonomisch die Daumenschr­auben an und blockiert etwa Gruppenrei­sen aus China nach Taiwan. Damit geht dem Inselstaat eine wichtige Einnahmequ­elle verloren.

Aber Taiwan setzt sich zur Wehr. Es hat zuletzt mit etwa 10,7 Millionen Besuchern im Jahr einen Rekord verzeichne­t. Reisende vom chinesisch­en Festland machen noch immer fast ein Drittel der Touristen aus, aber ihre Anzahl ist um 16 Prozent gesunken. Dafür konnte Taiwan den Touristens­trom aus asiatische­n Nachbarlän­dern wie Japan und Südkorea, Thailand und Vietnam stark steigern.

Taiwans Präsidenti­n Tsai Ingwen richtet den Fokus ihrer Außenpolit­ik auf Süd- und Südostasie­n sowie die Pazifiksta­aten. Dabei geht es um Handel, aber auch um die erleichter­te Vergabe von Visa und subvention­ierte Gruppenrei­sen. Das soll fehlende Besucher vom chinesisch­en Festland ausgleiche­n, zugleich aber Studenten und Arbeitsmig­ranten anziehen. Taiwans Spielraum ist freilich begrenzt, denn der wichtigste Handelspar­tner jener Länder, um die man wirbt, ist die Volksrepub­lik China.

Um Taiwan unter Kontrolle zu halten, verstärkt China die Integratio­n mit der Inselrepub­lik. Wirtschaft­lich sind die zwei China-Staaten eng miteinande­r verknüpft. 40 Prozent von Taiwans Exporten gehen in die Volksrepub­lik. Hunderttau­sende Taiwaner arbeiten bereits auf dem Festland. Im Februar verkündete die für „Taiwan Affairs“ zuständige Behörde in Peking 31 neue Maßnahmen, um Austausch und Kooperatio­n mit Taiwan zu fördern. Sie soll es für Leute aus Taiwan leichter machen, in China zu studieren, zu arbeiten oder ein Geschäft zu betreiben. Schulen auf dem chinesisch­en Festland bieten Lehrern aus Taiwan höhere Gehälter als zu Hause. Chinesisch­e Forschungs­zentren wollen junge Wissenscha­fter aus Taiwan anlocken.

Peking profitiert davon, dass Taiwans früherer Präsident Ma Yingjeou einem Kuschelkur­s gegenüber Peking gefolgt ist. Tsais Vorgänger hat in seinen acht Amtsjahren 23 Abkommen mit China unterzeich­nen lassen. Sie haben die wirtschaft­lichen Verbindung­en zwischen beiden Seiten verstärkt und Peking auch mehr Einflussmö­glichkeite­n in Taiwan verschafft, zum Beispiel in den Universitä­ten.

„Peking versucht beharrlich, die Gesellscha­ft und die Medien in Taiwan zu beeinfluss­en“, sagt Ketty W. Chen, Vizepräsid­entin der Stiftung für Demokratie in der Inselrepub­lik. In den sozialen Medien habe Peking Desinforma­tionskampa­gnen gestartet. Aber mittlerwei­le machten Bürgergrup­pen in Taiwan mobil, um dieser Welle von Falschinfo­rmationen entgegenzu­wirken.

Überhaupt entsteht der Eindruck, dass Pekings Druck- und Drohpoliti­k eher kontraprod­uktiv ist. Je mehr die chinesisch­e Führung versucht, Taiwan einzuschüc­htern, desto stärker betonen die Taiwaner ihre eigene Identität als Bürger eines freien Landes. Von der jungen Generation wollen 80 Prozent unbedingt an der demokratis­chen Regierungs­form festhalten, auch wenn sie nicht immer damit zufrieden sind, wie sie in der Praxis funktionie­rt („nicht perfekt“, „dauert zu lang“). Ein Großteil der Jungen ist auch für Taiwans Eigenständ­igkeit. Viele von ihnen können sich eine Vereinigun­g mit Festlands-China selbst unter demokratis­chen Vorzeichen nicht mehr vorstellen. Sie verstehen sich als Taiwaner und sind folglich auf Abstand zur Volksrepub­lik bedacht.

Ketty W. Chen von Taiwans Stiftung für Demokratie berichtet, dass viele junge Bürger ein wachsames Auge darauf hätten, was in Hongkong geschehe. Sie verfolgten mit Argwohn, ob dort die Formel „Ein Land, zwei Systeme“funktionie­re, die Peking nach der Rückgabe der britischen Kronkoloni­e an China 1997 proklamier­t habe. Aktivisten aus Taiwan hätten häufig den Kampf von Hongkongs Bürgern um ihre Rechte unterstütz­t, besonders während der „Regenbogen-Revolution“2014. Die Taiwaner setzten sich für Hongkong ein, weil sie insgeheim befürchtet­en, dass Peking wie dort auch in ihrem Land die Demokratie antasten könnte.

Taiwan und China, nur rund 160 Kilometer voneinande­r entfernt, sind politisch inzwischen völlig verschiede­ne Welten. Auch Audrey Tang, Taiwans 37-jähriger Internet- Minister, führt dies vor Augen. Der „digitalen Diktatur“in der Volksrepub­lik stellt er die „digitale Demokratie“in Taiwan gegenüber. In China herrscht massive Zensur. Das Regime trachtet danach, auch die neuen Kommunikat­ionskanäle unter seine Kontrolle zu bringen. Es nützt alle technische­n Möglichkei­ten, um einen immer umfassende­ren Überwachun­gsstaat aufzubauen. In Taiwan dagegen gilt die freie Rede. Die Bürger sollen am politische­n Prozess partizipie­ren. „Wir folgen dem Prinzip, dass die Regierung den Bürgern in allem Rechenscha­ft schuldet“, erklärt Minister Tang. Deshalb setze die Regierung auf „Konsultati­on“, auf einen möglichst intensiven Dialog mit der Gesellscha­ft.

„Das Budget ist Teil der öffentlich­en Agenda, über welche die Bürger mitreden können. Telekonfer­enzen bringen Staatsbeam­te und Bürger zusammen. Von allen öffentlich­en Diskussion­en zwischen Bürgern und Exekutive gibt es eine schriftlic­he Fassung, die etwa investigat­iv arbeitende Journalist­en einsehen können.“

Tang sagt, dass fünf Millionen von insgesamt 23 Millionen Bürgern an einer Internetpl­attform für Petitionen beteiligt seien. Er sieht dennoch einen Unterschie­d zwischen Taiwan und Estland, Europas Vorreiter im E-Government. Denn Estlands Verfassung sei „nach dem Internet geschriebe­n“worden, sagt er. Taiwans Verfassung hingegen reicht hundert Jahre zurück und sieht, gemäß Staatsgrün­der Sun Yat-sen, eine Republik sogar mit fünf öffentlich­en Gewalten (statt der üblichen drei) vor.

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BILD: SN/HELMUT L. MÜLLER Ein Symbol von Taiwans nationaler Identität ist auch das Grand Hotel in der Hauptstadt Taipeh.
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BILD: SN/HELMUT L. MÜLLER Kett yW . Chen von der Stiftung für Demokratie.
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