Viele Japaner suchen die Einsamkeit
Wo starke soziale Kontrolle, Hektik und Dichte den Alltag beherrschen, treten viele Menschen den Rückzug an.
TOKIO. Zwei Drittel Japans bestehen aus Gebirge. Die Bevölkerung lebt daher auf einem Drittel des Territoriums, so groß wie der US-Bundesstaat Kalifornien. Deshalb verdichtet sich rasch der Eindruck, dass sich die Japaner in den großen Städten ballen.
Ohne effizientes Nahverkehrssystem würde diese Megacity nicht funktionieren. Tokio hat 13 Millionen Einwohner, die ganze Region der japanischen Metropole zählt 35 Millionen Menschen. Massen sind hier täglich unterwegs. Nur wenn man sich strikt an Regeln hält, kommt es dabei zu keiner Kollision. Auf der Rolltreppe hinunter zur U-Bahn etwa steht man stets links, damit rechts die ganz Eiligen vorbeihasten können.
Der Fremde („Gaijin“) tut sich schwer in diesem Verkehrsgewühl. Wenn er Glück hat, findet er mitunter in der Metro einen Informationsstand, der auf Englisch seine Dienste anbietet. Ansonsten aber ist Tokio eine japanischsprachige Stadt. Auch die meisten Taxifahrer sprechen definitiv kein Wort Englisch.
In diesem Land sei ein hohes Maß an Perfektionismus weitverbreitet, sagt der deutsche Japan-Experte Florian Coulmas. Viele Menschen empfänden es als sehr unangenehm, sich mit Fehlern bloßzustellen. Man wolle sich daher nicht in Tätigkeiten üben, die man nicht gut beherrsche. Das sei ein ganz schlechtes Vorzeichen, um eine Fremdsprache zu lernen. Denn erst auf einem relativ hohen Niveau beginne man ja damit, fließend zu kommunizieren.
Tokio ist natürlich eine internationale Stadt. Trotzdem leben relativ wenige Ausländer hier. In der Metropole gibt es wie im ganzen Land eine weitgehend homogene Gesellschaft. 97 Prozent der Menschen in Japan sind Einheimische. Dass die Bevölkerung derart wenig diversifiziert ist, hat vor allem mit der Insellage des Landes zu tun, aber auch mit der Tatsache, dass die Japaner nicht gewöhnt sind an Immigranten.
Hiroki arbeitet für ein Reisebüro in Osaka und ist gerade in der Hauptstadt zu Besuch. Er erzählt, dass er auf einer Flugreise eine Griechin kennengelernt hat. Schon seit gut 20 Jahren lebt seine Ehefrau mittlerweile in Japan. Aber angekommen in der japanischen Gesellschaft ist sie noch immer nicht. Ihr Japanisch reicht gerade für die notwendigsten Dinge im Alltag. Zu viele von Tausenden Schriftzeichen, die man für Lesen und Schreiben in diesem Land braucht, beherrscht sie bis heute nicht. Die japanische Gesellschaft zeichnet sich nach wie vor durch einen starken sozialen Zusammenhalt aus. Das bedeutet im alltäglichen Umgang miteinander einen massiven Druck auf den einzelnen Menschen. Die Arbeit sei für viele Japaner noch immer ein wichtiger „Ankerplatz“, erläutert Coulmas. Der Firma gehöre die persönliche Loyalität. Neben der Arbeit stehe für die meisten Japaner die Familie ganz obenan.
Dichte und Hektik kennzeichnen das gesellschaftliche Getriebe in den japanischen Großstädten. Dafür gibt es ein typisches Bild in Tokio: Wir schauen auf die Kreuzung am Bahnhof Shibuya. Bis zu 15.000 Fußgänger sollen hier pro Ampelphase die Straße überqueren, quer in alle Richtungen und ohne einander zu beachten. Im Hintergrund sehen wir riesige Reklame- und Videotafeln leuchten.
Michiko hat deshalb zwei Rezepte, wenn es westlichen Besuchern, die sie durch die Stadt führt, zu viel an Trubel wird: Entweder fährt sie mit ihnen hinauf an die Spitze eines Wolkenkratzers, etwa im Skytree, Tokios neuem Fernsehturm (634 Meter). Oder sie gönnt ihnen Momente der Ruhe und der Muße in einem japanischen Garten, in Tokio am liebsten im idyllischen HamaRikyu-Garten.
Aber auch immer mehr Japaner fliehen offenbar vor der Masse. Diese Großstadtmenschen ziehen sich total aus der Gesellschaft zurück. Sie brechen den Kontakt zur Außenwelt ab, gehen nicht mehr arbeiten und verbarrikadieren sich in ihrem Zimmer. Anders als für die Klaustrophoben ist für sie der geschlossene Raum kein Grund für Panikattacken, sondern die einzig sichere Umgebung. „Hikikomori“nennt man die Personen, die unter dieser Sozialphobie leiden. Es ist eine extreme Form der sozialen Zurückgezogenheit.
Eine Erhebung der japanischen Regierung hat im Jahr 2016 die Zahl der Betroffenen auf 540.000 im Alter zwischen 15 und 39 Jahren geschätzt. Aber die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Manche Experten mutmaßen, dass sogar Millionen Menschen in Japan (Gesamtbevölkerung: 130 Millionen Einwohner) sich so ab- und ausschließen vom sozialen Leben.
„Wir sehen eine extreme Vereinzelung, Isolierung und Vereinsamung in der japanischen Gesellschaft“, stellt der langjährige Beobachter Florian Coulmas fest. Da- zu trägt die demografische Entwicklung maßgeblich bei. Japan hat eine niedrige Geburtenrate und zugleich eine große Abneigung gegen Immigration. Die Gesellschaft altert rapide, und die Bevölkerung schrumpft ständig. Japan hat inzwischen die älteste Bevölkerung der Welt: Annähernd 28 Prozent der Einwohner sind über 65 Jahre alt; einer von sieben Bürgern ist bereits über 75. In den USA ist im Vergleich dieses Verhältnis 1:16.
Viele alte Menschen leben allein. Die kinderreichen Familien, die sich früher um sie gekümmert haben, gibt es oft nicht mehr. Schwierig ist die Lage für die älteren Menschen vor allem auf dem Land. Die Jungen ziehen in das teure Tokio oder andere Großstädte, um dort zu studieren oder zu arbeiten.
Deswegen leeren sich allmählich die Dörfer und die kleinen Städte. In der Provinz schließen viele Geschäfte und Servicestellen, weil sie immer weniger Kunden haben. Die Alten, die dennoch bleiben in den ländlichen Gebieten, müssen lange Wege zum Einkauf oder zum Arzt auf sich nehmen.
Japans alternde Gesellschaft setzt folglich immer mehr auf Roboter, wenn es an Menschen für ein soziales Miteinander mangelt.