So klar erzählt man große Oper
Ein weiteres Gemeinschaftskunstwerk: Regisseur Hans Neuenfels und Dirigent Mariss Jansons machen „Pique Dame“zum Erlebnis.
„Jede Provokation schöpft ihren Sinn aus ihrer Zeit“, legte der Regisseur Hans Neuenfels kürzlich in einem Interview in der „Neuen Zürcher Zeitung“dar. Also hatte es wohl, vor siebzehn Jahren, seine Berechtigung, wenn er sich in der wilden letzten Saison der Ära von Gerard Mortier an der „Fledermaus“, einem österreichischen Nationalheiligtum, „vergriff“, indem er das bei Johann Strauß durchaus angelegte Delirium der Personen in eine breit ausgewalzte Koksparty uminterpretierte. Der Skandal damals war so heftig wie deftig. Dabei hatte Neuenfels nur ein Jahr zuvor, im Sommer 2000, mit Mozarts „Così fan tutte“auch schon einigermaßen angeeckt.
Mittlerweile ist der Regisseur, einer der Ahnherrn des sogenannten „deutschen Regietheaters“, 77 Jahre alt. Würde er noch einmal zuschlagen, war im Vorfeld der Premiere von Tschaikowskis Oper „Pique Dame“nicht selten die bange Frage. Seit Sonntag wissen wir: Er hat gemeinsam mit dem fast gleichaltrigen Dirigenten Mariss Jansons (und versehen mit dem herrlich fließenden Klang der Wiener Philharmoniker) eine im Grunde wunderschöne, bildstarke, bemerkenswert klar und geisteshell durchgearbeitete und handwerklich so subtil wie effektiv in Szene gesetzte Produktion vorgelegt, ein Schmuckstück dieses Festspieljahrgangs.
Die vielbeschriebenen Ratten seines Bayreuther „Lohengrin“wurden im Lauf der Jahre zu Lieblingen des Publikums. Wäre dieser „Pique Dame“Dauer beschieden: Man würde sie wohl ebenso gerne wie- dersehen, schon allein wegen der gleichermaßen zeichenhaften wie schwerelosen Eleganz der schwarzweißen Kostüme von Reinhard von der Thannen, bei denen nur das knallend herausstechende Rot der Husarenuniform des männlichen Protagonisten, Hermann, den signalhaften Kontrast bildet.
Die nach einer Erzählung von Alexander Puschkin 1890 entstandene Oper erzählt von dem Offizier Hermann, der sich Hals über Kopf in eine unbekannte Schöne verliebt, dann erfahren muss, dass Lisa dem Fürsten Jelezki versprochen ist. Lisas Großmutter, eine rätselhafte Gräfin, die in besten Kreisen verkehrte, wahrt das Geheimnis dreier Karten, die den Sieg im Spiel versprechen. Sieg im Spiel und Glück in der Liebe: Das geht schon sprichwörtlich nicht zusammen, und so verliert Hermann am Ende beides.
Auf der Basis der Erzählung hat der Bruder des Komponisten, Modest Tschaikowski, das Libretto verfasst, das Peter Tschaikowski nach einigem Zögern in einem Schaffensrausch von wenigen Wochen zu Notenpapier brachte.
Das scheint insofern für die Salzburger Einstudierung von Belang, als man im leidenschaftlichen Zug, den Mariss Jansons der Partitur gibt, auch in der scheckigen musikalischen Dramaturgie, die von gieriger Emphase bis zu fahlen Todesfarben, von Stilzitaten bis zu einem klassizistischen Intermezzo als Spiel im Spiel reicht, den Schwung der Entstehung zu hören vermeint. Mariss Jansons, der in einem Gespräch über die Frage nach der Sympathie mit den – durchaus ambivalenten – Figuren meinte, der Dirigent müsse in diesem Fall eigentlich alle Figuren auch selbst sein, folgt in seiner Interpretation dem Fluss des Erzählens. Er spannt ein weites, von den Wiener Philharmonikern so schwärmerisch wie delikat in einzelnen Akzenten veredeltes Klangfeld auf. Herrlich allein, wie die Klarinetten „abgeschmeckt“sind. In keinem Moment verfällt er dem Pathos, alles ist luzide durchleuchtet, ohne dabei an Saft, Energie, großem Gefühl einzubüßen. Zum zweiten Mal nach der vorjährigen „Lady Macbeth von Mzensk“von Schostakowitsch ist es ein Coup der Salzburger Festspiele, den Opern liebenden, das Genre aber selten bedienenden Jansons sozusagen für den Orchestergraben gewonnen zu haben.
Und es macht sich wohl auch wieder einmal bezahlt, dass Jansons wie stets von Beginn der Proben an dabei war. Das beglaubigt auch das Gemeinschaftsgefühl, das auf beiden Ebenen, jener der Musik und jener der Szene, greift. Keiner steigt irgendwann ein oder zu, jeder interessiert sich für den anderen und das andere. Nur so entstehen – siehe auch die Sensation der „Salome“in der Felsenreitschule – große Wiedergaben großer Kunstwerke. Jansons und Neuenfels scheinen jedenfalls starken Gefallen aneinander gefunden zu haben.
In der szenischen Handschrift lassen sich unschwer Parameter des Neuenfels’schen Denkens und Gestaltens ausmachen. Er hat mit einem naturalistischen Stimmungsimpressionismus nichts am Hut. Die Bühne von Christian Schmidt ist ein abstraktes, schwarzes Halbrund, versehen mit akustischen Noppen, wie man sie aus Aufnahmestudios kennt, so neutral wie möglich, offen als Spielfeld für alles. Auf Laufbändern werden Dekorationselemente wie der Spieltisch hereingefahren, und die ausgiebigen Chorszenen werden als belebtabstrakte Tableaux meisterhaft genau gestellt.
Das ergibt einerseits dekorative Effekte, andererseits aber auch Assoziationsfelder für eine Gesellschaft, die in ihren eigenen Konventionen gefangen ist. Da zeigt sich die Theaterpranke des Altmeisters in gleichsam altersweiser Souveränität. Der Wiener Staatsopernchor, einstudiert von Ernst Raffelsberger, hat auch darstellerisch einen großen Abend.
Als kleine Provokation, die indessen wirkt wie eine Erinnerung an das Erregungspotenzial früher(er) Neuenfels-Regien, wird der silbergrau uniform gekleidete Kinderchor der ersten Szene (vorzüglich: der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor unter Leitung von Wolfgang Götz) in Käfigen hereingefahren, von den „Müttern“an die Erziehungskandare genommen. Früher wären da vielleicht auch noch stilisierte Hundestatisten zugange gewesen, aber das braucht Neuenfels jetzt nicht mehr. Auch zuweilen ironisch gebrochene, paramilitärische Massenbewegungen sind nur noch sanfte, beinahe nostalgische Zitatflächen.
Den Erzählfaden spinnt Neuenfels vergleichsweise moderat, ja konventionell bis brav. Das heißt auch, dass manche Einzelszenen etwas opernhaft schematisch geraten, aber dann wieder zeigt sich, je länger, je mehr, vor allem in der geheimnisvollen Todesszene der Gräfin, die unaufdringlich zielgenaue Kunst der Personenführung. Hier spielt nicht nur Mariss Jansons als gespenstischer Klangfarbenmaler mit, sondern auch die in wenigen Tagen unglaubliche 75 Jahre alt werdende Altistin Hanna Schwarz, die die Schlichtheit ihres Abschiedsund Erinnerungscouplets zu einem Solo von stiller tragischer Größe und seltener Anmut macht. Überhaupt scheint Hanna Schwarz wie eine Ephebe in grellbuntem Kostümund Accessoiremix eine eigene Welt abzubilden: kein Monster, eine feine, lebenskluge Menschendarstellerin. Faszinierend. Bewegend. Großartig.
Die beiden Protagonisten, Hermann und Lisa, zeichnet Neuenfels als komplementäre Einzelgänger, die auf je eigene Art Freiheit von den Zwängen der Konvention erlangen wollen und um den Preis des Lebens scheitern. Brandon Jovanovich und Evgenia Muraveva singen und spielen das mit ganz eigenen Profilen, der Tenor mühelos ohne Pressdruck auf die Stimme und sängerdarstellerisch exzellent mit juvenilem Schwung, die Sopranistin mit dunkel grundierter, leidenschaftlicher Leuchtkraft.
Aus dem personenreichen Ensemble, jede Figur ein idiomatisch präzise umrissener Charakter, ragen der stahl- und strahlkräftige Igor Golovatenko als Fürst Jelezki, Vladislav Sulimsky als Hermanns Freund Tomski, die spitze Tenorstimme von Alexander Kravets als Tschekalinski und Oksana Volkova als Polina heraus. Im bunten Panorama der Stile, Formen und Emotionen bilden aber alle eine Einheit von festspielwürdigem Format.
Die Premiere wurde denn auch mit tosend sich steigerndem Applaus aufgenommen, mit besonderer Phonzahl für Mariss Jansons, mit zaghaften (und wirklich völlig ungerechtfertigten) Buhrufen für das Regieteam. Aber gewisse Vorurteile sind womöglich nicht auszurotten.