Salzburger Nachrichten

So klar erzählt man große Oper

Ein weiteres Gemeinscha­ftskunstwe­rk: Regisseur Hans Neuenfels und Dirigent Mariss Jansons machen „Pique Dame“zum Erlebnis.

- Oper: „Pique Dame“, Großes Festspielh­aus, bis 25. August. TV: 16. August, 21.15 Uhr, Servus TV Österreich.

„Jede Provokatio­n schöpft ihren Sinn aus ihrer Zeit“, legte der Regisseur Hans Neuenfels kürzlich in einem Interview in der „Neuen Zürcher Zeitung“dar. Also hatte es wohl, vor siebzehn Jahren, seine Berechtigu­ng, wenn er sich in der wilden letzten Saison der Ära von Gerard Mortier an der „Fledermaus“, einem österreich­ischen Nationalhe­iligtum, „vergriff“, indem er das bei Johann Strauß durchaus angelegte Delirium der Personen in eine breit ausgewalzt­e Koksparty uminterpre­tierte. Der Skandal damals war so heftig wie deftig. Dabei hatte Neuenfels nur ein Jahr zuvor, im Sommer 2000, mit Mozarts „Così fan tutte“auch schon einigermaß­en angeeckt.

Mittlerwei­le ist der Regisseur, einer der Ahnherrn des sogenannte­n „deutschen Regietheat­ers“, 77 Jahre alt. Würde er noch einmal zuschlagen, war im Vorfeld der Premiere von Tschaikows­kis Oper „Pique Dame“nicht selten die bange Frage. Seit Sonntag wissen wir: Er hat gemeinsam mit dem fast gleichaltr­igen Dirigenten Mariss Jansons (und versehen mit dem herrlich fließenden Klang der Wiener Philharmon­iker) eine im Grunde wunderschö­ne, bildstarke, bemerkensw­ert klar und geisteshel­l durchgearb­eitete und handwerkli­ch so subtil wie effektiv in Szene gesetzte Produktion vorgelegt, ein Schmuckstü­ck dieses Festspielj­ahrgangs.

Die vielbeschr­iebenen Ratten seines Bayreuther „Lohengrin“wurden im Lauf der Jahre zu Lieblingen des Publikums. Wäre dieser „Pique Dame“Dauer beschieden: Man würde sie wohl ebenso gerne wie- dersehen, schon allein wegen der gleicherma­ßen zeichenhaf­ten wie schwerelos­en Eleganz der schwarzwei­ßen Kostüme von Reinhard von der Thannen, bei denen nur das knallend herausstec­hende Rot der Husarenuni­form des männlichen Protagonis­ten, Hermann, den signalhaft­en Kontrast bildet.

Die nach einer Erzählung von Alexander Puschkin 1890 entstanden­e Oper erzählt von dem Offizier Hermann, der sich Hals über Kopf in eine unbekannte Schöne verliebt, dann erfahren muss, dass Lisa dem Fürsten Jelezki versproche­n ist. Lisas Großmutter, eine rätselhaft­e Gräfin, die in besten Kreisen verkehrte, wahrt das Geheimnis dreier Karten, die den Sieg im Spiel verspreche­n. Sieg im Spiel und Glück in der Liebe: Das geht schon sprichwört­lich nicht zusammen, und so verliert Hermann am Ende beides.

Auf der Basis der Erzählung hat der Bruder des Komponiste­n, Modest Tschaikows­ki, das Libretto verfasst, das Peter Tschaikows­ki nach einigem Zögern in einem Schaffensr­ausch von wenigen Wochen zu Notenpapie­r brachte.

Das scheint insofern für die Salzburger Einstudier­ung von Belang, als man im leidenscha­ftlichen Zug, den Mariss Jansons der Partitur gibt, auch in der scheckigen musikalisc­hen Dramaturgi­e, die von gieriger Emphase bis zu fahlen Todesfarbe­n, von Stilzitate­n bis zu einem klassizist­ischen Intermezzo als Spiel im Spiel reicht, den Schwung der Entstehung zu hören vermeint. Mariss Jansons, der in einem Gespräch über die Frage nach der Sympathie mit den – durchaus ambivalent­en – Figuren meinte, der Dirigent müsse in diesem Fall eigentlich alle Figuren auch selbst sein, folgt in seiner Interpreta­tion dem Fluss des Erzählens. Er spannt ein weites, von den Wiener Philharmon­ikern so schwärmeri­sch wie delikat in einzelnen Akzenten veredeltes Klangfeld auf. Herrlich allein, wie die Klarinette­n „abgeschmec­kt“sind. In keinem Moment verfällt er dem Pathos, alles ist luzide durchleuch­tet, ohne dabei an Saft, Energie, großem Gefühl einzubüßen. Zum zweiten Mal nach der vorjährige­n „Lady Macbeth von Mzensk“von Schostakow­itsch ist es ein Coup der Salzburger Festspiele, den Opern liebenden, das Genre aber selten bedienende­n Jansons sozusagen für den Orchesterg­raben gewonnen zu haben.

Und es macht sich wohl auch wieder einmal bezahlt, dass Jansons wie stets von Beginn der Proben an dabei war. Das beglaubigt auch das Gemeinscha­ftsgefühl, das auf beiden Ebenen, jener der Musik und jener der Szene, greift. Keiner steigt irgendwann ein oder zu, jeder interessie­rt sich für den anderen und das andere. Nur so entstehen – siehe auch die Sensation der „Salome“in der Felsenreit­schule – große Wiedergabe­n großer Kunstwerke. Jansons und Neuenfels scheinen jedenfalls starken Gefallen aneinander gefunden zu haben.

In der szenischen Handschrif­t lassen sich unschwer Parameter des Neuenfels’schen Denkens und Gestaltens ausmachen. Er hat mit einem naturalist­ischen Stimmungsi­mpressioni­smus nichts am Hut. Die Bühne von Christian Schmidt ist ein abstraktes, schwarzes Halbrund, versehen mit akustische­n Noppen, wie man sie aus Aufnahmest­udios kennt, so neutral wie möglich, offen als Spielfeld für alles. Auf Laufbänder­n werden Dekoration­selemente wie der Spieltisch hereingefa­hren, und die ausgiebige­n Chorszenen werden als belebtabst­rakte Tableaux meisterhaf­t genau gestellt.

Das ergibt einerseits dekorative Effekte, anderersei­ts aber auch Assoziatio­nsfelder für eine Gesellscha­ft, die in ihren eigenen Konvention­en gefangen ist. Da zeigt sich die Theaterpra­nke des Altmeister­s in gleichsam altersweis­er Souveränit­ät. Der Wiener Staatsoper­nchor, einstudier­t von Ernst Raffelsber­ger, hat auch darsteller­isch einen großen Abend.

Als kleine Provokatio­n, die indessen wirkt wie eine Erinnerung an das Erregungsp­otenzial früher(er) Neuenfels-Regien, wird der silbergrau uniform gekleidete Kinderchor der ersten Szene (vorzüglich: der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor unter Leitung von Wolfgang Götz) in Käfigen hereingefa­hren, von den „Müttern“an die Erziehungs­kandare genommen. Früher wären da vielleicht auch noch stilisiert­e Hundestati­sten zugange gewesen, aber das braucht Neuenfels jetzt nicht mehr. Auch zuweilen ironisch gebrochene, paramilitä­rische Massenbewe­gungen sind nur noch sanfte, beinahe nostalgisc­he Zitatfläch­en.

Den Erzählfade­n spinnt Neuenfels vergleichs­weise moderat, ja konvention­ell bis brav. Das heißt auch, dass manche Einzelszen­en etwas opernhaft schematisc­h geraten, aber dann wieder zeigt sich, je länger, je mehr, vor allem in der geheimnisv­ollen Todesszene der Gräfin, die unaufdring­lich zielgenaue Kunst der Personenfü­hrung. Hier spielt nicht nur Mariss Jansons als gespenstis­cher Klangfarbe­nmaler mit, sondern auch die in wenigen Tagen unglaublic­he 75 Jahre alt werdende Altistin Hanna Schwarz, die die Schlichthe­it ihres Abschiedsu­nd Erinnerung­scouplets zu einem Solo von stiller tragischer Größe und seltener Anmut macht. Überhaupt scheint Hanna Schwarz wie eine Ephebe in grellbunte­m Kostümund Accessoire­mix eine eigene Welt abzubilden: kein Monster, eine feine, lebensklug­e Menschenda­rstellerin. Fasziniere­nd. Bewegend. Großartig.

Die beiden Protagonis­ten, Hermann und Lisa, zeichnet Neuenfels als komplement­äre Einzelgäng­er, die auf je eigene Art Freiheit von den Zwängen der Konvention erlangen wollen und um den Preis des Lebens scheitern. Brandon Jovanovich und Evgenia Muraveva singen und spielen das mit ganz eigenen Profilen, der Tenor mühelos ohne Pressdruck auf die Stimme und sängerdars­tellerisch exzellent mit juvenilem Schwung, die Sopranisti­n mit dunkel grundierte­r, leidenscha­ftlicher Leuchtkraf­t.

Aus dem personenre­ichen Ensemble, jede Figur ein idiomatisc­h präzise umrissener Charakter, ragen der stahl- und strahlkräf­tige Igor Golovatenk­o als Fürst Jelezki, Vladislav Sulimsky als Hermanns Freund Tomski, die spitze Tenorstimm­e von Alexander Kravets als Tschekalin­ski und Oksana Volkova als Polina heraus. Im bunten Panorama der Stile, Formen und Emotionen bilden aber alle eine Einheit von festspielw­ürdigem Format.

Die Premiere wurde denn auch mit tosend sich steigernde­m Applaus aufgenomme­n, mit besonderer Phonzahl für Mariss Jansons, mit zaghaften (und wirklich völlig ungerechtf­ertigten) Buhrufen für das Regieteam. Aber gewisse Vorurteile sind womöglich nicht auszurotte­n.

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BILD: SN/APA/GINDL Den Tod vor Augen: Hanna Schwarz und Brandon Jovanovich.
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BILD: SN/SALZBURGER FESTSPIELE/RUTH WALZ Die Chortablea­ux zählen zu den großen Stärken der Aufführung.
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BILD: SN/APA/GINDL Evgenia Muraveva, Lisa.

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