Politik der Doppelzüngigkeit
Das Ringen um eine neue Weltordnung
In der frühen Neuzeit stellten Reformation und Glaubenskriege die mittelalterliche Ordnung des christlichen Abendlandes auf den Kopf. Von Luthers Thesenanschlag 1517 bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 rangen Europas Fürsten um einen Platz in der neuen Weltordnung. Dabei wurde Staatsräson nicht nur in der Wissenschaft, wo sich Politik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als eigene Disziplin etablierte, zum Leitmotiv: Das Interesse des Staates stand über allem anderen, selbst Lügen und unmoralische Entscheidungen wurden als Mittel zum Zweck betrachtet. Guez de Balzac erklärte in dem für Ludwig XIII. verfassten Werk „Der Fürst“(1631), dass die Notwendigkeit „alles entschuldigt und rechtfertigt“, wenn es beispielsweise darum ging, Frankreich vor den Protestanten oder den spanischen Habsburgern zu schützen. Gabriel Naudé führte in seinen „Politischen Betrachtungen über die Staatsstreiche“(1639) aus, dass Staatskunst manchmal „die Verletzung des öffentlichen Rechts zugunsten des Gemeinwohls“erforderte. Wer sich in den internationalen Beziehungen behaupten und die Konkurrenz übervorteilen wollte, konnte auf Doppelzüngigkeit nicht verzichten. Diplomatische Vertretungen im Ausland galten als Informationsbeschaffer sowie Sprachrohr ihres Herrn. Wie Sir Henry Wotton (Bild), der englische Botschafter in Venedig, schrieb, war es allgemein üblich, „einen Ehrenmann zu schicken, damit er im Ausland zum Wohl seines Landes lügt“. Buchtipp: Mark Greengrass: Das verlorene Paradies. Europa 1517–1648 (Theiss Verlag) Alexandra Bleyer