Salzburger Nachrichten

Ein Blick von außen auf Bruckners Neunte

- Komponist David Robert Coleman mit dem Oud-Solisten und Sopranisti­n Elsa Dreisig.

Die Oud setzt den ersten Akzent. Bohrend kreist diese orientalis­che Laute um ein enges Klangfenst­er aus Sekund-Intervalle­n, prallt auf harte Harfenklän­ge. Doch diese Atmosphäre hält nur wenige Momente an, ehe der erste Orchestere­insatz wieder in die Gegenwart zurückführ­t: Wir befinden uns mitten im Nahostkonf­likt.

Die Verbindung aus zeitgenöss­ischer Musik westlich-europäisch­en Zuschnitts und orientalis­cher Klangsphär­e stammt aus der Feder des Briten David Robert Coleman. Sein Stück „Looking for Palestine“wirkt in den Händen von Daniel Barenboim und auf den Notenpulte­n des West-Eastern Divan Orchestra auf dem richtigen Platz. Seit knapp zwanzig Jahren realisiert der Dirigent mit israelisch­en und palästinen­sischen – sowie neuerdings auch mit iranischen und türkischen – Musikern diese orchestral­e Friedensvi­sion, die er gemeinsam mit dem Literaturp­rofessor Edward W. Said entwickelt hat. Barenboim erteilte Coleman den Auftrag, einen autobiogra­fischen Theatertex­t von Saids Tochter Najla zu vertonen.

Bei den Salzburger Festspiele­n erklang das Werk am Donnerstag zum dritten Mal, nachdem es am 9. August in Aarhus zur Uraufführu­ng gelangt war. Najla Said verarbeite­t ihre Erlebnisse während des Aufenthalt­s im kriegsgepl­agten Libanon 2006, die sie in ihrer Heimatstad­t New York immer wieder einholen. Coleman formt aus diesem Monolog herbe Gesangslin­ien, die sich in einen rasenden Gedankenst­rom entwickeln. Während einer Pro-Palästinen­ser-Demonstrat­ion erleidet die Protagonis­tin einen Wutanfall, der sich in heftigen Orchester-Eruptionen spiegelt.

Die Sopranisti­n Elsa Dreisig musste hier ihre leuchtende Stimme zu schrillen Spitzentön­en in extremer Höhe einsetzen, ehe sich der Klang wieder beruhigte und zuletzt erlosch. Auch weil Coleman orientalis­che Klangfarbe­n vorwiegend als schroffe Irritation­en einsetzt, wird die klanglich reizvolle, knapp 25-minütige Kompositio­n diesem Stück Gegenwarts­dramatik gerecht. Beim Schlussapp­laus holte Daniel Barenboim auch die Autorin auf die Bühne.

Auf das taufrische Monodrama folgte eine weitere Entdeckung­sreise: Erstmals wagte sich das WestEaster­n Divan Orchestra an eine Symphonie von Anton Bruckner. Dann gleich die Neunte – das zeugt von Sportsgeis­t. Was der Großsympho­niker in den drei Sätzen seines unvollende­ten letzten Werks hinterlass­en hat, lohnt einen Blick von außen. Die jungen Musiker aus Nahost warfen sich ohne Scheuklapp­en in diese Unternehmu­ng. Als ob er den Kriegsklän­gen aus „Looking for Palestine“ein fernes Echo zur Seite stellen wollte, ließ Barenboim sein Orchester vor allem im Scherzo von der Leine: packende Wucht, rasende Motorik, aber auch selten so plastisch Gehörtes wie das Trompetene­cho im Hauptthema oder die Pizzicati in den zweiten Geigen zu Beginn. Eine dröhnende Höllenfahr­t, durch die der Bruckner-Spezialist sein hervorrage­nd präpariert­es Orchester lenkte.

Zuvor ließ bereits der Kopfsatz aufhorchen: Der Klangkörpe­r zeigte sich erstaunlic­h flexibel, dämpfte seinen Riesenklan­g immer wieder auf Flüster-Lautstärke herab und schälte prägnante Details aus der Partitur. Barenboim zog das Tempo im Seitensatz mitunter gehörig an, erlöste Bruckner – trotz zwölf Kontrabäss­en! – von aller Erdenschwe­re.

Den Blick in den Himmel, den gewährt der Komponist im – mangels auskomponi­erten Finales – abschließe­nden Adagio. Hier lenkte Barenboim alles auf die finale Überwältig­ung, diese niederschm­etternde Klimax, die im Großen Festspielh­aus auch tatsächlic­h alle Grenzen sprengte. Dass danach die Spannung im Epilog in sich zusammenfi­el, dass man auch davor so manches gerne feiner gezeichnet gehört hätte: alles berechtigt­e Einwände. Im frenetisch­en Jubel nach diesem Klangerleb­nis gingen sie zu Recht unter.

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