Salzburger Nachrichten

Die Gefahr eines ungeordnet­en Brexit wächst

Die Verhandlun­gen zwischen Brüssel und London stocken, das Zieldatum Oktober wackelt.

- Michel Barnier, EU-Chefverhan­dler

BRÜSSEL. Ist es Taktik oder riskiert Großbritan­nien tatsächlic­h einen Austritt aus der EU ohne Regeln am 29. März 2019? Seit London vorige Woche zahlreiche Papiere zur Vorbereitu­ng eines ungeordnet­en Brexit veröffentl­icht hat, beschäftig­t diese Frage viele EU-Vertreter. Am Montag legte die britische Premiermin­isterin Theresa May noch einmal nach, als sie sagte, ein Abgang aus der EU ohne Deal wäre zwar „kein Spaziergan­g im Park“, aber auch „kein Weltunterg­ang“.

Seit Mai gibt es bei den großen Themen, allen voran Nordirland, keine Fortschrit­te. Zwar sind die Teams um EU-Chefverhan­dler Michel Barnier und den britischen Brexit-Minister Dominic Raab mittlerwei­le permanent im Gespräch, doch Ergebnisse gibt es kaum. Das lässt die Nervosität in den Mitgliedss­taaten steigen. Parallel dazu versucht London – bisher ohne Erfolg – mit Besuchsdip­lomatie Keile zwischen die 27 EU-Länder zu treiben. Dem Vernehmen nach wollte sich London sogar mit der EU-Kommission für den schlimmste­n Fall abstimmen.

Im Hintergrun­d heißt es schon, eine Einigung auf ein Austrittsa­bkommen (samt Übergangsf­rist) bis zum EU-Gipfel am 18. und 19. Oktober sei nicht mehr wahrschein­lich – und damit ein Sondergipf­el Mitte November nicht auszuschli­eßen. Auch Barnier spricht mittlerwei­le von „Oktober oder November“. Damit blieben nur rund vier Monate Zeit für die Zustimmung des europäisch­en und insbesonde­re britischen Parlaments zum Austrittsv­ertrag. Die Gefahr eines chaotische­n Ausstiegs Großbritan­niens aus der EU steigt damit weiter. Regierunge­n, wie zu Wochenbegi­nn in Frankreich, tragen ihren Ministern auf, sich auf ein solches Szenario vorzuberei­ten. Auch Wirtschaft­sverbände raten ihren Mitglieder­n, „zweigleisi­g“vorzugehen und mit Zöllen, Lieferverz­ögerungen und Ähnlichem nicht erst ab 2021, sondern schon ab April 2019 zu rechnen. „Großbritan­nien wird ein Drittstaat und daher wird es auf jeden Fall Zollkontro­llen und Ursprungsr­egeln geben“, sagt Christian Mandl, Leiter der Stabsstell­e EUKoordina­tion in der Wirtschaft­skammer. Die Kammer hat, ähnlich wie der Deutsche Industrie- und Handelskam­mertag, Checkliste­n veröffentl­icht, anhand derer Betriebe die Folgen des Brexit systematis­ch durchgehen können.

Barnier hat nach der Sommerpaus­e seine Tour durch die Hauptstädt­e wieder aufgenomme­n. Nach einem Treffen mit dem deutschen Außenminis­ter Heiko Maas am Mittwoch in Berlin bekräftigt­e er die Bereitscha­ft der EU, „Großbritan­nien eine Beziehung anzubieten, wie es sie noch nie mit einem, Drittstaat gegeben hat“, sowohl in wirtschaft­licher als auch außenund sicherheit­spolitisch­er Sicht. Einen EU-Binnenmark­t „à la carte" könne es aber nicht geben. Das Modell Norwegen komme nur dann infrage, wenn London die Regeln akzeptiere. Norwegen ist kein EU-Mitglied, hat aber vollen Zugang zum Binnenmark­t, weil es alle EU-Gesetze übernommen hat und auch Zahlungen in den EU-Haushalt leistet.

„Wir respektier­en genau Großbritan­niens rote Linien.“

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