Fotograf mit „begabten Augen“
Erich Lessing, der Doyen der österreichischen Fotografie, ist im Alter von 95 Jahren gestorben. Seine Warnung lautete: „Wir beginnen, in einer Zeit der Dokumentationsnot zu leben.“
„Um ein gutes Foto zu machen, braucht man zwei Augen“, so umriss Erich Lessing einst seine Kunst. „Und Augen sind entweder begabt zum Sehen oder nicht.“Die Augen des österreichischen Fotografen gehörten in der Nachkriegszeit zu den begabtesten der Welt, mit seinem Fotoapparat hat er Weltgeschichte festgehalten. Wenige Wochen nach seinem 95. Geburtstag ist er gestorben.
Ob Ungarn-Aufstand, das jüdische Osteuropa oder die Zeit des Wiederaufbaus im Kommunismus: Die Bilder von Erich Lessing gingen um die Welt, seine Porträtaufnahmen großer Politiker wie Eisenhower oder Chruschtschow sowie wichtiger Künstler wie Herbert von Karajan machten ihn weltberühmt.
Mit der digitalen Fotografie konnte er sich nicht anfreunden. „Ich gehe immer wieder zu analog zurück“, gestand er in einem Interview. Das digitale Zeitalter bereitete ihm eher Sorge. „Der Fotograf mit der Digitalkamera hebt heute nur das auf, was sein Chef oder er selbst in diesem Augenblick braucht. Speicherplatz ist teuer, das meiste wird gelöscht. Wir beginnen jetzt eigentlich, in einer Zeit der Dokumentationsnot zu leben“, so brachte Lessing eines der großen Probleme unserer Zeit auf den Punkt.
Das Dokumentieren von Zeitströmungen war dem Doyen der Fotografie stets wichtig. Und so hat er erst mit 89 Jahren, 2012, eine eigene Galerie in der Wiener Innenstadt eröffnet, die einige Jahre lang Aufnahmen aus siebzig Arbeitsjahren in thematischen Ausstellungen präsentierte. Vor wenigen Monaten wurde sie geschlossen.
Geboren wurde Erich Lessing am 13. Juli 1923 als Sohn eines Zahnarztes und einer Konzertpianistin in Wien. 1939 emigrierte er nach Palästina, studierte in Haifa Radiotechnik und arbeitete als Karpfenzüchter in einem Kibbuz. Bereits als Kind interessierte er sich für die Fotografie, bekam mit 13 Jahren seinen ersten Fotoapparat. Als Erwachsener fand er zu diesem Hobby zurück und verdiente damit sein Geld. Zuerst arbeitete Lessing als Kindergarten- und Strandfotograf, während des Zweiten Weltkriegs wurde er von der Britischen Armee als Fotograf verpflichtet. Nach Kriegsende kehrte der damals 24Jährige nach Wien zurück und lernte seine spätere Frau Traudl kennen.
Sie arbeitete als Journalistin bei der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press, für die auch Lessing fortan als Fotoreporter wirkte. Nebenbei arbeitete er als freier Fotograf für Zeitschriften wie „Life“, „Paris Match“oder „Fortune“. 1951 stieß er zur Magnum Agentur, die vier Jahre zuvor von Robert Capa, George Rodger, David Seymour und Henri Cartier-Bresson in Paris gegründet worden war. Das Kollektiv wollte mit seinen Arbeiten die Ereignisse auf der Welt dokumentieren und damit das Bewusstsein der Menschen schärfen. Die Mitarbeiter sahen sich selbst als Künstler und Reporter.
Lessing dokumentierte mit Akribie und seinem besonderen Blick die politischen Ereignisse im Nachkriegseuropa. Seine Bilder, etwa vom Besuch Charles de Gaulles in Algerien oder von der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags mit dem berühmten Motiv auf dem Balkon des Belvedere, sorgten weltweit für Aufsehen, mit seinen Porträts kam er zu großem Ansehen. Seit den 60er-Jahren inszenierte der Fotograf mit seinen von ihm als „Erzählfotos“bezeichneten Arbeiten historische Persönlichkeiten wie Musiker, Poeten oder Physiker. Einen kompletten Satz seiner rund 60.000 Farbfotografien schenkte Lessing 2013 der Nationalbibliothek.
Zehntausende Aufnahmen entstanden im Verlauf seiner Karriere, viele davon haben in über 60 Büchern und in Ausstellungen auf der ganzen Welt ihr Publikum gefunden: ein unverlierbarer Schatz.