Salzburger Nachrichten

Wo Politik keine Rolle spielt

Eine Klinik von Ärzte ohne Grenzen im jordanisch­en Amman ist für Kriegsverl­etzte aus dem Jemen oft die letzte Hoffnung.

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AMMAN. Der neunjährig­e Anas schmiegt sich schüchtern an die Schulter des Vaters, der erzählt, was „an diesem schrecklic­hen Mittwoch“im Sommer 2015 in Aden geschehen ist. „Wir kamen von einer Trauerfeie­r. 36 Menschen waren am Vortag bei Gefechten ums Leben gekommen. Trotzdem gab es schon wieder Checkpoint­s und Barrikaden und Schießerei­en. Da schlug in unserem Haus eine Granate ein“, schildert Saber Abdu Said und ballt die Faust. Erregt und empört will er uns das völlig vernarbte Bein seines Sohnes zeigen. Anas wehrt sich, beginnt zu zittern. Doch dann entblößt er für einen kurzen Moment seine Verletzung. Granatspli­tter haben Verbrennun­gen und schwere Nervenverl­etzungen an Beinen sowie im Fersenbere­ich des jungen Jemeniten verursacht. Nach mehreren erfolglose­n Operatione­n wurde Anas von einem Team der Organisati­on Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Aden untersucht. Seine Krankenakt­e wurde nach Amman geschickt.

Hier in Jordanien entscheide­t der Arzt Ajeeb Almimari über die Aufnahme von Kriegsverl­etzten. Sie kommen aus Syrien, dem Irak, dem Gazastreif­en und aus dem Jemen, wo die medizinisc­he Versorgung am schwierigs­ten ist. „Wir fragen nicht nach Herkunft oder politische­n Überzeugun­gen, sondern urteilen ausschließ­lich nach medizinisc­hen Kriterien“, betont der jemenitisc­he Chirurg und Hilfskoord­inator. Aufgenomme­n würden in erster Linie sogenannte Cold-Case-Patienten, deren komplizier­te Verletzung­en in ihren Heimatländ­ern nicht weiter behandelt werden könnten. Es sind Patienten wie der junge Anas, der während seines viermonati­gen Spitalsauf­enthalts in Amman bereits zwei Mal operiert wurde und nachmittag­s von einem Kinderpsyc­hologen betreut wird. Bis zu einem Jahr könne die Behandlung dauern. Die Kosten werden von Ärzte ohne Grenzen getragen. Die Klinik, betont Almimari nicht ohne Stolz, sei das „mit Abstand teuerste Projekt“der französisc­hen Hilfsorgan­isation.

Fast 5000 Patienten wurden seit 2006 im MSF-Spital für rekonstruk­tive Chirurgie in Amman operiert. Aus dem Jemen werden jeden Monat rund 20 Kriegsverl­etzte aufgenomme­n. Sie haben die längste und gefährlich­ste Anreise hinter sich. Es dauere oft mehrere Tage, bis die Patienten durch die Einflussge­biete der verschiede­nen Kriegspart­eien zu den Flughäfen von Aden und Seiyun (in der Provinz Hadramaut) geschleust werden könnten. „Die Verhöre an den Checkpoint­s der Warlords dauern oft stundenlan­g“, sagt Firas Nasser, ein Arzt aus Sanaa, der die humanitäre Situation in seinem Land als „absolut dramatisch“beschreibt. Mehr als 80 Prozent der 24 Millionen Jemeniten seien auf Überlebens­hilfe der UNO angewiesen. Im Zentraljem­en sei erneut die Cholera ausgebroch­en.

Ibrahim Mohammed Saleh (27) ist seit elf Monaten in der Klinik. 2011 wurde er in Aden an Rücken und Beinen schwer verletzt, als das Regime mit Mörsergran­aten in Demonstrat­ionen schoss. Saleh konnte danach nur noch unter großen Schmerzen hinken. Nun, vier Operatione­n später, ist er fast beschwerde­frei. Bald soll er wieder zurück in den Jemen. Saleh wirkt unsicher. „Ich weiß, dass ich dort jederzeit sterben kann, wenn ich, wie damals, am falschen Ort bin“, sagt er leise. Nicht alle Patienten teilen diese Ansicht. Er werde „ein neues Leben im Jemen beginnen“, verkündet Mohammed Abdallah al Azzi stolz und reckt sein markantes Kinn nach vorn. Zwei Jahre lang wurde der 30-Jährige von den Ärzten ohne Grenzen behandelt, nach einem Panzerfaus­tangriff auf seinen Pritschenw­agen „regelrecht zusammenge­flickt“. „Als ich nach Amman kam, saß ich im Rollstuhl“, sagt Mohammed. „Heute kann ich wieder gehen und muss dieses große Geschenk auch nutzen.“

Würde er jetzt resigniere­n, wäre die Arbeit der Ärzte in Jordanien sinnlos gewesen.

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BILD: SN/MW Der verletzte Anas mit seinem Vater Saber Abdu Said.

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