Mit Liebe hat das nichts zu tun
Xavier Legrands atemberaubendes Filmdebüt „Nach dem Urteil“erkundet, was „häusliche Gewalt“bedeutet.
Die Familienrichterin hat entschieden: Der zwölfjährige Julien wird weiterhin jedes zweite Wochenende bei seinem Papa Antoine (Denis Ménochet) verbringen, auch wenn Julien und seine Mutter Miriam (gespielt von Léa Drucker) dagegen angekämpft haben. Aber ist es nicht das Recht eines liebenden Vaters, sein Kind zu sehen?
Der Thriller „Nach dem Urteil“(Regie: Xavier Legrand) beginnt als Sozialdrama und arbeitet sich in jene rabenschwarze Bereiche vor, wo psychische und physische Gewalt in einer Familie zum Alltag gehören. Seine Hellsichtigkeit bescherte Legrand vor einem Jahr in Venedig den Silbernen Löwen für die beste Regie und den Preis für das beste Debüt. Jetzt kommt der Film in die österreichischen Kinos. SN: Sie vermeiden in „Nach dem Urteil“, Gründe zu finden, warum dieser Mann sich so verhält: Da gibt es keine speziell harte Kindheit, keinen brutalen Druck im Job. Waren Sie je versucht, ihn zu rechtfertigen? Xavier Legrand: Ich gebe keine Erklärungen, aber mir war auch wichtig, ihn als Mann und nicht als Monster zu porträtieren. Ich glaube nicht, dass man mit einem Gen für Gewalt geboren wird. Ich wollte aber zeigen, dass es immer einen Kontext braucht, damit ein Mann gewalttätig wird. Wir sehen ihn bei seinen Eltern, wie sein Vater mit der Mutter umgeht, das sind patriarchale Strukturen. Ich versuche nicht, ihn zu entschuldigen, aber ich klage auch nicht an. Interessanter ist für mich zu zeigen, dass solche Leute begabte Manipulatoren sind: Sie finden gute Ausreden, er pocht etwa auf sein väterliches Recht, den Sohn zu sehen, und das ist prinzipiell auch legitim. Als er bei der Geburtstagsfeier seiner Tochter auftaucht, hat er einen guten Grund dafür, er hat ja ein Geschenk für sie. Wer sollte es ihm verwehren, ihr das zu geben? Als er erzwingt, zu erfahren, wo seine Frau mit den Kindern lebt, ist sein Argument nachvollziehbar: Ich werde wohl wissen dürfen, wo meine Kinder leben! SN: Diese Gründe sind alle nachvollziehbar. Aber Ihr Film macht klar, dass seine Liebe zu seiner Ex-Frau und den Kindern ihm kein Recht gibt, sie so zu behandeln. Nichts rechtfertigt Gewalt. Aber über häusliche Gewalt wird oft anders gesprochen, und das ist ein riesiges Problem. Ich weiß nicht, wie die Lage in Ihrem Land ist, aber in Frankreich wird alle zweieinhalb Tage eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet. In der Presse wird davon berichtet mit verharmlosenden Schlagzeilen wie „Familiendrama“oder „Verbrechen aus Leidenschaft“. Man vergisst einfach zu erwähnen, dass das Morde sind. Liebe rechtfertigt niemals, niemals Gewalt, in keinem Ausmaß, aber es gibt in den Medien erschreckend oft die Tendenz, solche Situationen zu romantisieren. Das ist niemals in Ordnung, nie! Es ist Frauenmord, nichts sonst. SN: Ihr Film beginnt als Familiendrama und endet beinah als Horrorthriller. Wie haben Sie diese Dynamik erreicht? Ich hatte große Freude daran, diesen Genrewechsel zu versuchen. Ich habe mich da inspirieren lassen von populären Filmen: Wir beginnen gewissermaßen mit „Kramer gegen Kramer“, wechseln dann zu Charles Laughtons „Night of the Hunter“mit Robert Mitchum und enden wie Stanley Kubricks „Shining“. Diese drei Filme haben vordergründig nichts miteinander zu tun, aber unserem Film haben sie die Kontinuität verschafft. SN: Nach Ihrem Film ist im Kino komplette Stille. Haben Sie das erwartet? Ja, ich will ja tatsächlich schockieren, ohne Perversion. Das ist ein wichtiger Punkt. Gewalt ist etwas dermaßen Schlimmes, und ich fände es falsch, aus einem solchen Film gleichgültig hinauszugehen. Ich will die Zuschauer durcheinanderbringen, ob das Ergebnis Stille ist, Erschrecken, oder Nachdenken – oder am besten alles. Wenn wir Gewalt zeigen, ist es wichtig, dass sie uns kalt erwischt. Kino: „Nach dem Urteil“, Sozialthriller, Frankreich 2017. Regie: Xavier Legrand. Mit Léa Drucker, Denis Ménochet. Start: 7. September.
„Liebe rechtfertigt nie Gewalt.“Xavier Legrand, Regisseur