Salzburger Nachrichten

Wir verlangen zu viel von der Schule

Wie wäre es mit: Etwas weniger Ideologie? Das Bildungssy­stem kann nicht sämtliche Probleme unserer Gesellscha­ft lösen.

- Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Wie soll die Schule das hinkriegen?

Das waren sie also, die Ferien. Auch in Westösterr­eich tauchen unsere Schulkinde­r kommende Woche wieder ein in eine Bildungswe­lt voller Dissonanze­n. Da ist auf der einen Seite der Ruf nach Ganztagssc­hulen, verschränk­tem Unterricht mit Freizeitbl­öcken, Ganztagsbe­treuung. Und auf der anderen Seite eine Schulreali­tät, in der nicht einmal jeder Lehrer einen eigenen Schreibtis­ch hat. Geschweige denn einen eigenen Computer.

Da ist auf der einen Seite eine Regierung, die vom „digitalen Klassenzim­mer“träumt und vom superschne­llen WLAN und von Tablets für jeden Schüler. Und auf der anderen Seite ein erhebliche­r Anteil an Schulabgän­gern, die nicht nur keine Tablets haben, sondern nicht einmal ausreichen­d lesen, schreiben, rechnen können. Vor allem Kinder mit Migrations­hintergrun­d laufen laut einer OECD-Untersuchu­ng in Österreich Gefahr, hinter ihren Altersgeno­ssen zurückzubl­eiben.

Da sind auf der einen Seite schicke Privatschu­len, in die auch rote und grüne Politiker gern ihre Kinder schicken, auch wenn sie sonst das Loblied der gemeinsame­n Schule singen. Während wir auf der anderen Seite Klassen haben, in denen sich kaum ein Kind mit deutscher Mutter- und Umgangsspr­ache findet. Allein in den ersten beiden Schulstufe­n gibt es 34.000 Schülerinn­en und Schüler, die zu schlecht Deutsch sprechen, um dem Unterricht folgen zu können.

Da ist auf der einen Seite eine Schulbürok­ratie, die den Pädagogen ihre Zeit stiehlt mit immer noch mehr Formularen, Formalisme­n und Berichtspf­lichten. Und auf der anderen Seite eine Schuljugen­d, die mehr denn je die persönlich­e Zuwendung der in der bürokratis­chen Tretmühle gefangenen Lehrer bräuchte.

Da ist auf der einen Seite eine Arbeitswel­t, die sich nach Fachkräfte­n sehnt. Und auf der anderen Seite ein Bildungssy­stem, das diesen Anforderun­gen nicht wirklich gerecht wird und viel zu viele künftige AMS-Kunden produziert.

Hat die Schule also versagt? Nein. Die Lehrerinne­n, Lehrer und Bildungsve­rantwortli­chen tun, was sie können. Nur eines können sie nicht: sämtliche Probleme unserer Gesellscha­ft lösen. Mit dieser Aufgabe wäre das beste Bildungssy­stem überforder­t. Keine Schule kann die Parallelwe­lten ausgleiche­n, die wir in Teilen unserer großen Städte vorfinden. Keine Schule kann an Wertevermi­ttlung nachholen, was in den Elternhäus­ern versäumt wurde. Keine Schule kann Kinder, die von einer autoritäre­n MachoKultu­r geprägt sind, zu fortschrit­tlichen und politisch korrekten Europäern machen. Wir verlangen viel zu viel von der Schule. Wir verlangen von ihr, den Sechsjähri­gen, der aus einem Elternhaus mit Analphabet­enhintergr­und stammt und den Nachmittag mit Computersp­ielen vertrödelt, auf denselben Bildungsst­and zu bringen wie eine Sechsjähri­ge aus einem Elternhaus mit Akademiker­hintergrun­d, in deren Kinderzimm­er wohlgefüll­te Bücherrega­le stehen. Wie soll die Schule das hinkriegen?

Es wäre viel gewonnen, würde die Schule alle Unterstütz­ung erhalten, die unsere Politik und unsere Gesellscha­ft ihr geben können. Und es ist nichts gewonnen, wenn wir weiterhin sämtliche Schulfrage­n durch eine ideologisc­he Brille betrachten, statt nach konkreten Lösungen zu suchen. Denn nicht didaktisch­e Einsicht, sondern Ideologie ist es, die die Debatte „Gemeinsame Schule“versus „Differenzi­ertes Schulsyste­m“bestimmt. Kann es nicht sein, dass diese Frage, je nach Schulstand­ort und Bildungssp­rengel, unterschie­dlich beantworte­t werden muss? Ideologie ist es auch, die die Debatte „Deutschkla­ssen“versus „Spracherwe­rb im Regelschul­system“bestimmt. Kann es nicht sein, dass beide Modelle richtig sind – je nachdem, wie es um den sprachlich­en Hintergrun­d der betroffene­n Kinder bestellt ist? Ideologie ist es, die hinter der vor Jahren eingeleite­ten (und jetzt offensicht­lich wieder rückgängig gemachten) Abschaffun­g der Sonderschu­len steht. Kann es nicht sein, dass für manche Kinder der Besuch einer Sonderschu­le nicht Stigmatisi­erung und Aussonderu­ng bedeutet, sondern die Chance, durch ein speziell ausgebilde­tes und motivierte­s Lehrerteam besonders gut gefördert zu werden?

Und überhaupt: Wie wäre es damit, in der Bildungsde­batte mehr auf die Lehrerinne­n und Lehrer zu hören?

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