Wir verlangen zu viel von der Schule
Wie wäre es mit: Etwas weniger Ideologie? Das Bildungssystem kann nicht sämtliche Probleme unserer Gesellschaft lösen.
Wie soll die Schule das hinkriegen?
Das waren sie also, die Ferien. Auch in Westösterreich tauchen unsere Schulkinder kommende Woche wieder ein in eine Bildungswelt voller Dissonanzen. Da ist auf der einen Seite der Ruf nach Ganztagsschulen, verschränktem Unterricht mit Freizeitblöcken, Ganztagsbetreuung. Und auf der anderen Seite eine Schulrealität, in der nicht einmal jeder Lehrer einen eigenen Schreibtisch hat. Geschweige denn einen eigenen Computer.
Da ist auf der einen Seite eine Regierung, die vom „digitalen Klassenzimmer“träumt und vom superschnellen WLAN und von Tablets für jeden Schüler. Und auf der anderen Seite ein erheblicher Anteil an Schulabgängern, die nicht nur keine Tablets haben, sondern nicht einmal ausreichend lesen, schreiben, rechnen können. Vor allem Kinder mit Migrationshintergrund laufen laut einer OECD-Untersuchung in Österreich Gefahr, hinter ihren Altersgenossen zurückzubleiben.
Da sind auf der einen Seite schicke Privatschulen, in die auch rote und grüne Politiker gern ihre Kinder schicken, auch wenn sie sonst das Loblied der gemeinsamen Schule singen. Während wir auf der anderen Seite Klassen haben, in denen sich kaum ein Kind mit deutscher Mutter- und Umgangssprache findet. Allein in den ersten beiden Schulstufen gibt es 34.000 Schülerinnen und Schüler, die zu schlecht Deutsch sprechen, um dem Unterricht folgen zu können.
Da ist auf der einen Seite eine Schulbürokratie, die den Pädagogen ihre Zeit stiehlt mit immer noch mehr Formularen, Formalismen und Berichtspflichten. Und auf der anderen Seite eine Schuljugend, die mehr denn je die persönliche Zuwendung der in der bürokratischen Tretmühle gefangenen Lehrer bräuchte.
Da ist auf der einen Seite eine Arbeitswelt, die sich nach Fachkräften sehnt. Und auf der anderen Seite ein Bildungssystem, das diesen Anforderungen nicht wirklich gerecht wird und viel zu viele künftige AMS-Kunden produziert.
Hat die Schule also versagt? Nein. Die Lehrerinnen, Lehrer und Bildungsverantwortlichen tun, was sie können. Nur eines können sie nicht: sämtliche Probleme unserer Gesellschaft lösen. Mit dieser Aufgabe wäre das beste Bildungssystem überfordert. Keine Schule kann die Parallelwelten ausgleichen, die wir in Teilen unserer großen Städte vorfinden. Keine Schule kann an Wertevermittlung nachholen, was in den Elternhäusern versäumt wurde. Keine Schule kann Kinder, die von einer autoritären MachoKultur geprägt sind, zu fortschrittlichen und politisch korrekten Europäern machen. Wir verlangen viel zu viel von der Schule. Wir verlangen von ihr, den Sechsjährigen, der aus einem Elternhaus mit Analphabetenhintergrund stammt und den Nachmittag mit Computerspielen vertrödelt, auf denselben Bildungsstand zu bringen wie eine Sechsjährige aus einem Elternhaus mit Akademikerhintergrund, in deren Kinderzimmer wohlgefüllte Bücherregale stehen. Wie soll die Schule das hinkriegen?
Es wäre viel gewonnen, würde die Schule alle Unterstützung erhalten, die unsere Politik und unsere Gesellschaft ihr geben können. Und es ist nichts gewonnen, wenn wir weiterhin sämtliche Schulfragen durch eine ideologische Brille betrachten, statt nach konkreten Lösungen zu suchen. Denn nicht didaktische Einsicht, sondern Ideologie ist es, die die Debatte „Gemeinsame Schule“versus „Differenziertes Schulsystem“bestimmt. Kann es nicht sein, dass diese Frage, je nach Schulstandort und Bildungssprengel, unterschiedlich beantwortet werden muss? Ideologie ist es auch, die die Debatte „Deutschklassen“versus „Spracherwerb im Regelschulsystem“bestimmt. Kann es nicht sein, dass beide Modelle richtig sind – je nachdem, wie es um den sprachlichen Hintergrund der betroffenen Kinder bestellt ist? Ideologie ist es, die hinter der vor Jahren eingeleiteten (und jetzt offensichtlich wieder rückgängig gemachten) Abschaffung der Sonderschulen steht. Kann es nicht sein, dass für manche Kinder der Besuch einer Sonderschule nicht Stigmatisierung und Aussonderung bedeutet, sondern die Chance, durch ein speziell ausgebildetes und motiviertes Lehrerteam besonders gut gefördert zu werden?
Und überhaupt: Wie wäre es damit, in der Bildungsdebatte mehr auf die Lehrerinnen und Lehrer zu hören?