Salzburger Nachrichten

1989 Ein Loch im Eisernen Vorhang

Am 27. Juni 1989 durchschne­iden der österreich­ische und der ungarische Außenminis­ter den Zaun zwischen den beiden Ländern. Das Foto wird zum Symbol für den Zerfall des Ostblocks. Damals ging es aber unter.

- ANGELIKA WIENERROIT­HER

Es war nur ein kurzer Text, der am 28. Juni 1989 in den „Salzburger Nachrichte­n“erschien, einen Tag nach dem denkwürdig­en Fototermin in Sopron, Ungarn. Mit „Demontage des Stacheldra­htes“war der Siebenzeil­er betitelt. Dass sich irgendetwa­s ändern sollte, nur weil der österreich­ische Außenminis­ter Alois Mock und sein ungarische­r Kollege Gyula Horn mit viel zu großen Metallsche­ren an einem Zaun herumzwick­ten – daran glaubte anfangs niemand.

Engelbert Washietl, der später die Redaktion der SN leitete, schrieb in seiner Kolumne „Wiener Perspektiv­e“am 29. Juni: „Die Blechscher­en-Politik, die zur Zeit an der ungarische­n Grenze, dem einstigen Eisernen Vorhang, betrieben wird, hat viel von Theatralik und Show an sich.“Die ungarische­n Soldaten hätten den Draht herausgesp­ult, damit die Außenminis­ter etwas zu schneiden hätten. Im österreich­ischen Ministeriu­m sei zudem diskutiert worden, ob Mock überhaupt teilnehmen sollte.

Fotograf Bernhard Holzner war bei dem Termin dabei. Mehr noch, er hat die beiden Außenminis­ter am Grenzzaun zusammenge­bracht. „Ich habe mich geärgert“, sagt der 61-Jährige heute. Denn Ungarn habe bereits im Mai begonnen, den Zaun abzubauen. Der Erhalt sei schlichtwe­g zu teuer gewesen und 4000 Mal im Jahr hätten Waldtiere Fehlalarme ausgelöst. Moskau wollte die Erneuerung nicht finanziell unterstütz­en – woraufhin der Eiserne Vorhang plötzlich nicht mehr so eisern war. „Es war die Zeit des GulaschKom­munismus. Ungarn hat probiert, wie weit es gehen konnte“, sagt Holzner.

Doch über den Abbau des Eisernen Vorhangs berichtete kaum jemand. Nur vereinzelt tauchten Meldungen in den Zeitungen auf. Holzner hat daraufhin Außenminis­ter Mock mit der Bitte um einen Fototermin kontaktier­t, der wiederum hat seinem ungarische­n Kollegen einen Brief geschriebe­n. Monate später standen die beiden Minister mit den Scheren in der Hand vor dem Stacheldra­ht. Davon, dass der Draht erst für das Foto herausgesp­ult wurde, will Holzner nichts wissen. „Die Grenze war etliche Kilometer lang – und es gab nicht einen Zaun, sondern drei. Das hätte man in der Zeit gar nicht abbauen können.“

Im August bemerkte niemand die Tragweite eines weiteren Termins: das Paneuropäi­sche Picknick. „Die Idee war, dass sich Österreich­er und Ungarn ins Gras setzen, Bier trinken und Wurstsemme­ln essen. Interessan­t ist das nicht – von der Presse war deswegen keiner da“, sagt Holzner. Die Ungarn hätten bereits 1988 Pässe beantragen können, erstmals ohne Begründung. Mit diesem „Weltreisep­ass“konnten sie frei nach Österreich einreisen. Doch 800 DDR-Bürger, die angeblich auf Urlaub waren, flohen über die für drei Stunden geöffnete Grenze nach Österreich. „Es waren aber nur wenige Grenzpoliz­isten vor Ort. Keiner hat damit gerechnet“, sagt der Fotograf.

Eigentlich hätten die ungarische­n Grenzbeamt­en im August die Ausreise der DDRBürger verhindern müssen. Ein Abkommen von 1969 verpflicht­ete die Ungarn dazu. Tausende Ostdeutsch­e probierten es in den Tagen nach dem Picknick dennoch. Wenn sie erwischt wurden, weigerten sie sich zurückzuke­hren. Ihnen drohte Strafverfo­lgung wegen „versuchter Republikfl­ucht.“

Um Mitternach­t vom 10. auf den 11. September 1989 änderte sich die Situation: Ungarn öffnete die Grenze in Hegyeshalo­m-Nickelsdor­f für die Ostdeutsch­en. Als Erstes fuhr eine DDR-Familie im rostbrauen Lada nach Österreich. Innerhalb von zwei Tagen reisten 12.000 Ostdeutsch­e über Ungarn in den Westen. Ungarn hatte das Abkommen mit der DDR gekündigt.

Fünf Monate nachdem Alois Mock und Gyula Horn den Zaun zerschnitt­en hatten, war der Ostblock Geschichte. Am 22. Dezember 1989 öffnete das Brandenbur­ger Tor, 28 Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer, die Symbol der Teilung Europas war. In Ungarn, sagte der damalige deutsche Bundeskanz­ler Helmut Kohl, sei der erste Stein aus der Mauer geschlagen worden.

Das Bild von Mock und Horn war die Initialzün­dung für die Flucht der DDR-Bürger über Ungarn – und damit für die folgenden Ereignisse. Millionen Ostdeutsch­e sahen die Bilder im Westfernse­hen. Historiker Andreas Oplatka sieht in dem Abzwicken zwar nur eine symbolisch­e Handlung. „Aber Symbole können von stärkerer politische­r Ausstrahlu­ng sein als Taten“, schreibt der Historiker in seinem Buch „Der erste Riss in der Mauer“.

Hat Holzner damals geahnt, was dem Presseterm­in folgen würde? „Kein Mensch hat nur annähernd daran gedacht“, sagt der Fotograf. Selbst die Geheimdien­ste hätten die Ereignisse verschlafe­n. Heute hat Holzner das Goldene Verdienstk­reuz von Ungarn und den Verdiensto­rden der Republik Deutschlan­d bei sich im Fotogeschä­ft hängen. Ist es nicht bisschen eigenartig, dass aus einer scheinbare­n Banalität über die Jahre ein Symbol für ein zentrales Ereignis in der Geschichte wird? „Ja. Das Foto hatte große politische Auswirkung­en“, sagt der 61-jährige Fotograf. „Wie oft im Leben macht man schon so ein Bild?“

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BILD: SN/APA Der ungarische Außenminis­ter Gyula Horn (r.) und sein österreich­ischer Amtskolleg­e Alois Mock (l.) durchtrenn­en am 27. Juni 1989 ein Stück des Eisernen Vorhangs.

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