Wissenschaft
Rettung vor dem Suizid
Es gibt Ereignisse, die einen Menschen komplett aus der Bahn werfen können. So sehr, dass einem der Kopf plötzlich rät, Schluss zu machen mit dem eigenen Leben. Matthias (Name von der Redaktion geändert) lag im Dezember in einem Krankenhaus, wo ihm ein Tumor entfernt worden war. Am Tag vor der Entlassung, wenige Tage vor Weihnachten, stand dann plötzlich seine Frau am Krankenbett und sagte ihm, sie werde ihn verlassen. Nach 29 Jahren Ehe. Sie habe einen anderen.
Für den 56-jährigen Angestellten aus Bayern brach eine Welt zusammen. „Ich hatte zuvor schon viel erlebt. Aber damit kam ich nicht zusammen.“Erstmals in seinem Leben stürzte er in eine tiefe Depression, konnte nicht mehr schlafen. Irgendwann legte er sich eine Überdosis Medikamente zurecht. „Ich war um Haaresbreite davor. Es fehlte nicht viel zur Ausführung.“
Susanne (Name von der Redaktion geändert) hatte auch Zeiten, in denen sie nicht mehr weiterleben wollte. Die 46jährige Salzburgerin hat mehrere Suizidversuche hinter sich. Rund 20 Jahre ist das her. Einmal war es ganz knapp, da schluckte sie eine Überdosis Tabletten. Sie war zwei Tage nicht ansprechbar. Wie konnte es so weit kommen? „Ich bin als Kind mit wenig Selbstvertrauen aufgewachsen, hatte keinen Rückhalt in der Familie“, sagt Susanne heute. Der Vater war nicht präsent, die Mutter demütigte sie immer wieder, warf ihr Sätze hin wie: „Du bist nichts wert, du bist so dumm!“Auch Schläge gab es immer wieder. In der Schule wurde sie von anderen gemobbt. Später geriet sie an einen Mann, der sie finanziell ausnutzte.
Dass Menschen planen, sich das Leben zu nehmen, kann unterschiedliche Ursachen haben. Trennungen oder der Tod eines nahen Angehörigen, auch der Verlust des Arbeitsplatzes kann zu schweren Lebenskrisen führen. Ebenso können psychische Krankheiten, vor allem Depressionen, eine Ursache für Suizidalität sein. So ist das Risiko von depressiven Menschen, an einem Suizid zu sterben, zwanzig Mal höher als von Menschen, die keine Depressionen haben. Auch Alkohol-, Medikamenten- oder Drogensüchtige sowie alte und einsame Personen zählen zu den Risikogruppen – und solche, die bereits durch einen Suizid in der Familie belastet sind.
Im Vorjahr nahmen sich 1224 Österreicherinnen und Österreicher das Leben. Die Zahl der Versuche wird auf das Zwanzigfache geschätzt. Das wären also 67 Suizidversuche pro Tag. Die meisten Suizide entfallen auf Männer, die Mehrzahl der Suizidversuche auf Frauen. Allerdings nehmen die Zahlen von Jahr zu Jahr ab, was auf die heutzutage bessere psychosoziale Versorgung zurückzuführen sein dürfte. Die Medikamente in der Klinik hätten ihn gerettet, sagt Matthias, wenn er heute über die schwerste Krise seines Lebens nachdenkt. Einer seiner beiden Söhne habe ihn um die Jahreswende dazu überredet, sich in die Psychiatrie der Christian-Doppler-Klinik (CDK) einweisen zu lassen. Leicht fiel ihm das nicht. „Das kratzt ja arg am Ego eines Mannes.“Seit einem knappen halben Jahr geht es ihm jetzt wieder vergleichsweise gut. Zwar tauchen wehmütige Erinnerungen an bessere Zeiten immer wieder auf – aber zum Glück nur kurz. „Das darf man dann auf keinen Fall verdrängen. Man muss die Trauer zulassen. Nach einer halben Stunde ist das dann wieder weg.“Was Matthias aber heute noch erschüttert, ist die Tatsache, dass ihn damals rund um Weihnachten und in den Wochen danach sein Verstand so arg im Stich gelassen habe. „Der Verstand sagt dir da plötzlich: Du musst dich verabschieden, es kann alles nur noch beschissener werden! Du hast alles verloren, was du geliebt hast. Man blendet alles aus, was als Haltepunkt dienen könnte – die Kinder, die noch lebende Mutter. Wenn man das selbst nicht erlebt hat, kann man es nicht verstehen.“Matthias gelang es, die Krise zu überwinden. Und auch Susanne kommt seit zwei Jahrzehnten mit ihrer Situation vergleichsweise gut zurecht. Es gab in dieser Zeit auch keine Suizidversuche mehr. „Ich nehme Tabletten und gehe ein Mal wöchentlich zur Psychotherapie. Ich habe gelernt, dass man sich Hilfe holen muss.“Leicht sei es nicht immer. „Ich habe schon noch Selbstmordgedanken – wenn ich überfordert bin oder recht lange allein bin.“Wenn sie in solchen Situationen „emotional instabil“sei, denke sie aber an ihr Umfeld, an ihre Freundinnen und Freunde, die sie vermissen würden. „Und ich schaue dann, dass ich möglichst schnell meinen Therapeuten erreiche.“Oder sie sucht Hilfe in der Christian-Doppler-Klinik. Angehörige sollten jedenfalls hellhörig werden, wenn sie Auffälligkeiten bemerken wie Freudlosigkeit, Verzweiflung, totalen Rückzug und, besonders bei Männern, Aggressivität. Bei Kindern und Jugendlichen ist Vorsicht geboten, wenn sie plötzlich persönliche Gegenstände verschenken und sich intensiv mit dem Tod auseinandersetzen. Und wie kann man Betroffenen helfen, wenn sie ganz konkret planen, sich das Leben zu nehmen? Mit Argumenten komme man da nicht mehr durch, sagt Martin Plöderl, klinischer Psychologe am Bereich für Krisenintervention und Suizidprävention der CDK. Entscheidend sei in dieser Situation das „In-Beziehung-kommen“mit dem Betroffenen – dass also jemand da sei, der einem das Gefühl vermittle: „Du bist mir wichtig. Und es gibt Hoffnung!“