Die Einsamkeit ist von kurzer Dauer
ANTON THUSWALDNER WIEN. Was zählt schon das äußere Leben, wenn es im Inneren so unaufgeräumt aussieht. Vor allem benötigt Martha, die sich aufs tiefe Land zurückgezogen hat, um zu sich selbst zu finden, dringend die Ruhe, die sie vom eigentlich Wichtigen nicht ablenkt.
Das eigentlich Wichtige! Leicht lässt sich vorstellen, dass sich eine Sinnsucherin aus dem Alltagsleben, das nach Zweck ausgerichtet ist und dem produktiven Vorwärtsstreben dienen soll, kurzerhand ausklinkt.
Andrea Winklers jüngster Roman „Die Frau auf meiner Schulter“ist im Ort- und Zeitlosen verhaftet, was verständlich ist, weil Zeitgenossenschaft nicht die Stärke einer Person ist, die mit der Welt der Geschäftigkeit Schluss machen will.
Auf Zeit jedenfalls. Die Autorin Winkler, eine der auffallenden jüngeren Frauen in Österreich, die ihr Ding machen und sich um das, was gerade opportun ist, nicht scheren, lässt Martha im Verlauf von sechseinhalb Monaten, in denen sie sich eine Auszeit genehmigt, Tagebuch führen. So werden wir unmittelbar Zeugen dessen, was sie bewegt und wie sie die metaphysische Leere, die ihr Religion auch nicht zufriedenstellend zu füllen vermag, langsam mit ihren Eindrücken aus dem hintersten Winkel Österreichs auszutapezieren beginnt.
Martha unternimmt ein Lebensexperiment, am Ende soll sie stark genug sein, mit aufgefrischtem Bewusstsein in ihr früheres Leben zurückzukehren. Sie richtet sich ein in der Einsamkeit, unternimmt nicht viel. Sie wandert die Gegend ab, der Garten, der Wald, der Fluss, die Brücke sind Anker ihrer Wahrnehmung. Sie träumt viel, und dass darin regelmäßig ein Josip auftaucht, der aus ihrem Leben verschwunden ist, deutet schon an, dass einiges schiefgelaufen sein muss in ihrem bisherigen Leben. Mit einem Benjamin steht sie in Briefkontakt, auch er ist jemand, der für einen nicht zu Ende ausgetragenen Konflikt steht. Mit ein paar Handlungen, die sie „zusammenhalten“, wollte Martha ihr Auslangen finden: „aufstehen, waschen, frühstücken, haushalten, hinausgehen, in der Hängematte liegen, nichts, nichts nichts . . .“Ihre Lektüre beschränkt sie auf einen einzigen Platon-Dialog über den Tod. Der Tod, auch der ein Wegbegleiter durch Marthas Zeit auf dem Land. So macht das die Winkler nämlich: Sie tippt ein Motiv an, und daran schließen sich mannigfaltige Erkundungen, die in Variationen durchspielen, was brennt im Herzen dieser Frau. Verstorben ist der Besitzer des Hauses, in dem sie jetzt wohnt, der Friedhof wird zur Begegnungsstätte mit einer seltsam entrückten Frau, und Josip, die Gestalt aus den wiederkehrenden Träumen, ist tot.
Die Einsamkeit, so gut sich Martha auch darin einfindet, ist von kurzer Dauer. Nach und nach trifft sie auf Leute, die mindestens so eigensinnig sind wie sie selbst. Das Haus wird zum Treffpunkt der Einzelgänger, die allesamt nicht in Einklang stehen mit der Welt, wie sie nun einmal ist.
Es ist kein Träumelinchen-Land, in das uns Andrea Winkler mitnimmt, dazu ist sie eine viel zu reflektierte Person. Die Naivität fehlt ihr, die nötig ist, um sich voll und ganz auf die Ebene der Wirklichkeitsverweigerung zu stellen. Das Unbehagen hat einen Grund, und der heißt – nur würde es die Autorin so profan nicht ausdrücken – Kapitalismus. Martha ist eine sanfte Rebellin, die nicht den Aufstand wählt, um dem System zu Leibe zu rücken, sie bringt ihr Inneres ins Reine. Wenn sie Genugtuung daraus bezieht, „Dinge zu sehen, deren Nutzen in nichts anderem als darin bestand, für einen Augenblick mit mir in Kontakt zu kommen“, korrigiert sie damit jene Wirklichkeit des ununterbrochenen Reizbeschusses, die ihr ein Leben lang zu schaffen gemacht hat.
Martha steht am Ende der Ideologien. Sie findet keinen Halt in festen theoretischen Gebäuden, in die die Welterklärung der großen Gesten eingezogen ist. Ideologien weisen den Nachteil auf, dass sie Menschenexperimente brauchen, um Theorie in der Gesellschaft praktisch werden zu lassen. Martha aber ist auf sich allein gestellt, wird zur Lebenspraktikerin, die ihr eigenes Ich auf Zeit einer Neudeutung unterzieht. Solch ein Projekt funktioniert nur in kleinem Rahmen, ist nicht auf Übertragung angelegt. Eine Sprachkünstlerin mit poetischer Zauberhand haben wir auch noch an Andrea Winkler. Das ist mehr, als man erwarten darf.