Migrationskurs des Kanzlers scharf kritisiert
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen fordert vor dem EU-Gipfel in Salzburg einen menschlichen Umgang mit Flüchtlingen.
Das „Schließen von Fluchtrouten“war für Bundeskanzler Sebastian Kurz schon 2015, als er noch Außenminister war, das oberste Ziel in der Migrationspolitik. Mittlerweile ist es zum Konsens in der europäischen Politik geworden. Was sich am anderen Ende der Route abspielt, wird kaum erwähnt. „Europäische Politiker feiern den Rückgang der Ankünfte aus Libyen als Sieg ihrer restriktiven Flüchtlingspolitik. Doch die Maßnahmen Europas haben einen sehr hohen menschlichen Preis, der nicht ignoriert oder gerechtfertigt werden darf“, warnt Marcus Bachmann, humanitärer Berater bei Ärzte ohne Grenzen Österreich.
Auf der zentralen Mittelmeerroute betrifft das vor allem die Zustände in Libyen. Rund 13.000 Menschen wurden in diesem Jahr von der libyschen Küstenwache, die von der EU ausgebildet und unterstützt wird, aus Seenot gerettet und nach Libyen zurückgebracht. Dort werden die Migranten in Inhaftierungslager gesperrt, in denen bekanntermaßen katastrophale Zustände herrschen. Ärzte ohne Grenzen bekommt in einigen Fällen Zugang, abhängig vom Gutdünken der Lagerleitung. „In den Lagern behandeln wir Krankheiten, die den unmenschlichen und unhygienischen Haftbedingungen geschuldet sind“, berichtet Bachmann. Viele der inhaftierten Migranten seien Opfer von Folter und Gewalt geworden.
„Wir fordern Bundeskanzler Sebastian Kurz auf, jetzt endlich menschliche und nachhaltige Lösungen für die humanitäre Krise im Mittelmeer und in Libyen sowie für den Umgang mit Flüchtlingen zu finden“, betont Ärzte ohne Grenzen. Die EU habe in der Migrationspolitik eine Schlagseite zu unmenschlichen Lösungen bekommen, „die sich unter der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft weiter verstärkt hat“.
Kritik am Migrationskurs der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft kam zuletzt nicht nur von Hilfsorganisationen. Wie „Der Spiegel“in seiner aktuellen Ausgabe berichtet, stießen Reformpläne aus Wien im deutschen Auswärtigen Amt auf „massiven Widerstand“. Das Magazin bezieht sich dabei auf interne Vermerke und E-Mails zu einem Papier, das Österreich im Juli vorgelegt hat. Darin forderte die Regierung unter anderem eine Art Obergrenze für die Zuwanderung in die EU sowie die Unterbringung von abgelehnten Asylbewerbern in Rückkehrzentren in Drittstaaten.
Das Auswärtige Amt habe das Papier, das weit über die Vorschläge vom Juni-Gipfel hinausging, als „tendenziös formuliert“kritisiert. Es bediene „nicht nur das Vorurteil von schlecht ausgebildeten, delinquenten, jungen, allein reisenden Männern, sondern äußere grundsätzliche Zweifel an der Integrationsfähigkeit von Ausländern über Generationen“. Aus Wien kam daraufhin ein überarbeitetes Papier, in dem laut „Spiegel“-Informationen einige Vorschläge aber nur „sprachlich kaschiert“worden seien.
Differenzen in der Migrationspolitik gibt es unter den EU-Ländern auf vielen Ebenen. Beim heutigen Abendessen in Salzburg sollen sich die EU-Staats- und Regierungschefs aber auf die Gemeinsamkeiten konzentrieren. EU-Ratspräsident Donald Tusk schrieb in seinem Einladungsbrief, er hoffe, „dass wir die gegenseitigen Verstimmungen beenden und zu einem konstruktiven Ansatz zurückkehren können“.
Der Streit über neue Regeln für den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten in der EU ist – trotz sinkender Zahlen – heftiger geworden. Italien lässt seit Sommer keine Rettungsschiffe mehr in seine Häfen einlaufen, außer es ist vorher klar, wer die Geretteten aufnimmt.
EU-Diplomaten erwarten, dass Italiens Premier Giuseppe Conte in Salzburg neue Vorschläge für eine Verteilung von Migranten auf den Tisch legen wird. Ein Durchbruch werde aber nicht erwartet, sagte ein hochrangiger EU-Diplomat. Beim Besuch von Bundeskanzler Sebastian Kurz am Dienstag in Rom wurde das heikle Thema vor der Presse nur kurz angesprochen. Es bedürfe einer europäischen Lösung, sagte Conte. Vor allem betonte er, dass die EU mehr in den afrikanischen Herkunftsund Transitländern der Migranten investieren müsse – und er forderte erneut eine Änderung des Mandats der EU-Mission „Sophia“.
Bei den im Juni in Aussicht gestellten Ausschiffungplattformen für gerettete Bootsflüchtlinge in Nordafrika und Zentren in der EU sieht man noch Diskussionsbedarf. Bisher hat sich kein Land bereit erklärt, solche Zentren zu errichten Auch Ägypten, das Kurz gemeinsam mit Tusk zu Wochenbeginn besuchte, hat abgewinkt. Aufgeben sollte man die Idee aber noch nicht, sagte ein EU-Diplomat.