„Jeder ist zu 90 Prozent selbst für Gesundheit verantwortlich“
Gesundheitswissenschafter warnt vor einem „riesigen Geriatriezentrum Österreich“durch Zivilisationskrankheiten.
In Deutschland, der Schweiz und Österreich werden jeden Tag 2000 neue Patientinnen und Patienten mit Gefäßerkrankungen diagnostiziert. Auf diesen alarmierenden Befund wies der Gesundheitswissenschafter Fred Harms beim medizinischen „future forum“in St. Ulrich am Pillersee hin. „In sechs Jahren gibt es in Österreich so viele neue Gefäßpatienten, wie Salzburg Einwohner zählt.“
Der Institutsvorstand an der Sigmund-Freud-Universität Wien fordert daher wesentlich mehr Primärprävention. Seit mehr als 40 Jahren werde statistisch erhoben, wie lang die Österreicherinnen und Österreicher gesund lebten. „Innerhalb der vergangenen Jahrzehnte hat sich daran nichts geändert. Mit dem Moment, wo ich 60 Jahre alt werde, brauche ich medizinische Unterstützung. Der medizinische Fortschritt hat nicht die Zeit verlängert, in der wir länger gesund leben, sondern nur die Zeit, in der wir medizinische Hilfe brauchen. Wir leben in einem Land, das sich in den nächsten 20 Jahre zu einem riesigen Geriatriezentrum entwickeln wird“, sagt Harms. „Krebserkrankungen werden sich verdoppeln, die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich verdreifachen.“Die Struktur der Bevölkerung werde dann so sein wie in Florida, das die Amerikaner „God’s waiting room“nennen.
Die einzige Chance, das Gesundheitssystem auch in Zukunft noch finanzieren zu können, sieht Harms darin, „dass wir uns endlich um die Primärprävention kümmern, also darum, nicht krank zu werden“. Aber die Realität schaue derzeit völlig anders aus. „Wir Österreicher sind Raucher-Vizeweltmeister direkt hinter den Chinesen. Wir wollen oder können aber an dieses Thema nicht ernsthaft rangehen.“
Der Gesundheitswissenschafter fordert, die Rauchzeit durch Verbote entschieden einzuschränken. Der Effekt sei, das zeige sich in Ländern mit strengen Rauchverboten, „dass das Rauchen auf den Abend zu Hause verschoben wird“. In den wenigen Abendstunden bleibe dann aber nicht so viel Zeit, dass man den Konsum der tagsüber „versäumten“Zigaretten noch nachholen könnte. Die Schlussfolgerung ist für Harms klar: „Je größer die Einschränkungen durch Rauchverbote sind, desto weniger Zigaretten werden insgesamt geraucht.“Innerhalb weniger Woche könne die typische Verhaltensweise des Rauchens dadurch positiv beeinflusst werden.
Harms zieht dazu ein Beispiel aus der Schweiz heran. Diese sei das Land mit dem besten Zahnstatus. Der eine entscheidende Grund dafür sei die Erziehung zur Zahnpflege bereits im Kindergarten. Der zweite sei, dass der bei schlechter Pflege notwendige Besuch beim Zahnarzt nicht durch die Krankenversicherung bezahlt werde.
Der größte Risikofaktor für die Gesundheit eines Kindes seien seine Eltern, betont Harms. Aus einer Raucherfamilie kämen häufig wieder Raucherkinder, übergewichtige Eltern hätten häufig übergewichtige Kinder. „Daher muss frühzeitig ein Bewusstsein für Gesundheit geschaffen werden – bei den Kindern wie bei den Eltern.“
Beinahe 80 Prozent der Mittel des österreichischen Gesundheitswesens würden für die größten Zivilisationskrankheiten Herzinfarkt, Schlaganfall, Lungenkrankheiten, Diabetes und Adipositas aufgebracht. „Gerade gegen diese Selbstmanagementerkrankungen kann sich aber jeder durch einen gesunden Lebensstil schützen. Diese Verantwortung liegt zu 90 Prozent bei jedem selbst, nicht beim Arzt und beim Gesundheitssystem.“
Also Zuckerbrot (Bewusstseinsbildung) und Peitsche (Leistungseinschränkungen)? „Ich hoffe, dass die Peitsche nicht notwendig sein wird“, sagt Harms. „Der richtige Weg ist, dass man in einem freien Land wie Österreich den Menschen deutlich macht: Du bist in der Verantwortung dafür, ob du einmal Herzpatient oder Diabetespatient wirst.“Die Aufgabe des Gesundheitssystems sei es, die Menschen dabei zu unterstützen. Zum Beispiel dabei, dass die Hälfte der Diabetespatienten 15 Kilogramm abnimmt. „Das ist schwierig, dafür braucht man Unterstützung. Aber das Ergebnis wäre, dass von dieser Hälfte der Diabetespatienten die Hälfte keine Medikamente mehr benötigen würde.“