„Wir wären ein Albtraum in der EU“
In Großbritannien herrscht politisches Chaos. Daran würde sich auch nichts ändern, bliebe das Königreich in der EU.
Könnte Großbritannien doch noch in der EU bleiben? Wird es zu einem zweiten Referendum kommen? Wie geht es nun weiter? Ein Brexit-Realitätscheck mit dem Politologen Anand Menon, Chef des Instituts „UK in a Changing Europe“und einer der ausgewiesenen Brexit-Experten im Vereinigten Königreich. SN: In Europa will man nicht so recht glauben, dass die Briten die EU wirklich verlassen. Ist die Hoffnung berechtigt, dass es noch zu einem Exit vom Brexit kommen könnte? Menon: Das Irritierende an Großbritannien ist, dass alles passieren kann. Aber dass der Brexit ausfällt, ist höchst unwahrscheinlich. Keine Partei tritt dafür ein. Es ist auch nicht absehbar, dass das Parlament für eine weitere Volksabstimmung votiert. Im Übrigen: Es ist vollkommen denkbar, dass „Leave“wieder gewinnt. SN: Die Umfragen aber deuten an, dass die Stimmung kippt. Es gibt einen kleinen Umschwung, aber wenig Beweise dafür, dass die Menschen ihre Meinung ändern. Die Verschiebung kommt vielmehr dadurch zustande, dass jene Briten, die 2016 nicht gewählt haben oder zu jung waren, nun mehrheitlich zu „Remain“, zum Verbleib in der EU, tendieren. SN: Zuletzt forderten immer mehr Abgeordnete eine erneute Abstimmung und laut Umfragen wünscht auch die Öffentlichkeit eine solche. Die Zahlen sind sehr undurchsichtig. Es kommt immer darauf an, wonach man fragt. Ich glaube nicht, dass die Leute noch ein Referendum wollen. Es würde weiter Uneinigkeit stiften. Man hört ständig, dass dieses Mal alles besser und klarer wäre, weil wir wüssten, wofür wir stimmen würden. Das ist Unsinn. Das Referendum wäre über ein künftiges Handelsabkommen, aber wir haben keine Ahnung, welchen Deal wir erhalten würden. Es wäre eine erbärmliche, langweilige und deprimierende Wiederholung von 2016. Und stellen Sie sich vor, wir würden nun für den Verbleib in der EU stimmen! SN: Ja? Was wäre dann? Ein derartiger Ausgang würde wenn, dann nur mit knapper Mehrheit zustande kommen. Großbritannien wäre ein absoluter Albtraum in der EU. Die konservative Partei wird gespalten bleiben und Ukip (die rechtspopulistische AntiEU-Partei) würde ein Comeback erleben. Es wäre praktisch unmöglich für die Regierung, ein EU-Gesetz abzusegnen oder ein EU-Budget. Das neue Großbritannien wäre noch schwieriger als das alte. SN: Halten Sie einen Brexit ohne Ausstiegsvereinbarung für möglich? Ja, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich. Man darf davon ausgehen, dass die EU und das Königreich realisieren, dass es in ihrer beider Interesse ist, solch einen Ausgang zu vermeiden. Aber Politik kann Resultate hervorbringen, die niemand wünscht. Die Folgen eines No-deal-Brexit wären äußerst negativ. Beispielsweise hätten in Deutschland lebende Briten streng genommen keine gesetzlichen Rechte, weil sie keine EU-Bürger sind und es keine Gesetzgebung gibt, die sie absichert. Das heißt Chaos. Ein anderes Beispiel ist der Flugverkehr. Britische Flugzeuge würden erst einmal am Boden bleiben. SN: Was ist das wahrscheinlichste Szenario? Ich kann nur spekulieren, aber ich würde sagen, das Parlament wird widerstrebend das Abkommen unterstützen, das Theresa May auf dem Rücken einer vagen Lösung der irisch-nordirischen Grenzfrage bekommt und das so formuliert ist, dass beide Seiten zufrieden sind. Dann kommen wir zu den Verhandlungen um ein Handelsabkommen und Großbritannien wird mit Schrecken feststellen, dass die EU diesbezüglich keine Eile hat. Meine größte Sorge aber dreht sich um die Zeit, wenn die Übergangsphase zu Ende geht. Die wirkliche Klippenkante, das „cliff edge“, erreichen wir erst Ende 2020. SN: Aus Brüssel heißt es stets, dass der sogenannte ChequersVorschlag von Theresa May nicht funktioniert, weil er vorsieht, von den vier Freiheiten des Binnenmarkts nur eine, jene für Güter und Waren, fortzuführen. In Anbetracht der Bedingungen, unter denen May agiert, ist Chequers rein pragmatisch gesehen ein wirklich guter Kompromiss. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass der Binnenmarkt kein alleinstehendes rechtliches Konstrukt darstellt. Ich verstehe zwar, dass das Festhalten an den vier Freiheiten aus dem tiefgreifenden Wunsch unter den europäischen Staats- und Regierungschefs resultiert, sich nicht von Populisten vorführen zu lassen und es aussehen zu lassen, als sei die EU Stück für Stück auflösbar. Aber wie weit darf das gehen? Man muss eine Rechnung aufstellen: Einer der größten und militärisch mächtigsten EU-Staaten verlässt die Gemeinschaft, sollen wir dann herumfeilschen, um der AfD eine Lektion zu erteilen? Ich finde nicht. Aber ich bin Brite. SN: Wo hakt es? Die Regierung ist ein Chaos, das Parlament ist genauso gespalten wie das Land, die Premierministerin hat keine Autorität. Die Verhandlungsposition ist nicht gerade gut. Aber selbst unter optimalen Bedingungen wäre es äußerst schwierig, den Brexit zu bewerkstelligen. Irland stellt sich am kompliziertesten dar. Um eine Grenze zu vermeiden, muss auf Wunsch der EU Nordirland oder das ganze Königreich mehr oder minder im Binnenmarkt bleiben. Da braucht es einen Kompromiss, denn Brüssel stellt mit seiner Lösung im Grunde die Integrität des Binnenmarkts über die Integrität des britischen Staats. So würde ein Teil des Königreichs nach EU-Recht geregelt, über das das britische Parlament kein Sagen hat. Das ist eine große Sache und die Abgeordneten von beiden Parteien werden dem nie und nimmer zustimmen. Anand Menon