Wissenschaft
Alt werden – ist besser als gedacht
Verena Kast ist 75 und befasst sich in ihrem Buch „Altern – immer für eine Überraschung gut“mit dem „dritten Lebensalter“. Von 65 bis 84 sei man geistig und körperlich noch fit, aber frei vom Druck der Erwerbsarbeit. Nun gehe es darum, kreativ und flexibel ins Altern einzuwilligen. Im SN-Gespräch erläutert die Psychologin und Dozentin am C.-G.-Jung-Institut der Universität Zürich, warum Menschen mit 75 so glücklich sein können wie mit 20.
SN: Frau Kast, was ist das reizvolle an der dritten Lebensphase? Kast:
Die Forschung sagt, dass in der dritten Lebensphase die Zufriedenheit am größten ist. Im Vergleich zu dem, was man lange Zeit über das Alter sagte – alte Menschen bauen ab, werden verbittert und depressiv –, ist das eine ungeheure Aussage. 65- bis 84-Jährige empfinden eine hohe Lebensqualität. Sie sagen, es gehe ihnen gut. Sie haben Interessen und ein relativ ausgeglichenes Selbstwertgefühl. Sie pflegen Beziehungen, nicht mehr so viele wie früher, aber die dafür intensiver. Aber selbstverständlich sind das alles statistische Durchschnittswerte. Wenn jemand sagt, mein Beruf war mein ganzes Leben, und das ist jetzt weg, wird dieser Mensch depressiv sein.
SN: Sie gebrauchen jetzt als 75-Jährige häufiger das Wörtchen „noch“. Ist da Nostalgie und Wehmut dabei?
Es ist Dankbarkeit und Wehmut. Dankbarkeit dafür, was ein ganzes Leben lang gegangen ist. Wehmut darüber, dass Altern auch heißt, Dinge immer wieder weggeben und auf sie verzichten zu müssen. Aber das gilt nicht nur für das Alter. Das ganze Leben muss abschiedlich gelebt werden. Es gibt immer wieder Beziehungen, die aufhören. Der Unterschied ist, dass wir in jüngeren Jahren oft etwas weggeben mussten, aber etwas Neues dazugekommen ist. Oder wir hatten die Hände so voll zu tun, dass es ganz gut war, auf etwas zu verzichten, damit man wieder etwas Neues anfassen konnte. Im höheren Alter kommt nicht mehr so viel nach. Aber man besinnt sich eher darauf, was ich noch habe und wie ich das befriedigender ausgestalten kann.
SN: Wie geht „abschiedliches“Leben, ohne es ständig als Verlust zu erleben? Etwa wenn Menschen nicht mehr Autofahren können.
Abschiedlich leben heißt, dass man die Rhythmen des Lebens wahrnimmt. Wir haben Winter, wir haben Sommer. Es gibt eine Zeit, dieses zu machen, und eine Zeit, jenes zu tun. Wenn man gelernt hat, abschiedlich zu leben, ist man nicht so darauf festgelegt, alles behalten zu wollen.
Die Frage ist, ob wir mit einer Haltung ins Alter kommen, in der wir sagen: Das Leben war immer ein Gewinnen und Verlieren. Oder sage ich, ich muss alles festhalten, so lange es noch geht. Zum Beispiel das Autofahren. Das aufgeben zu müssen ist ein Verlust. Aber wir beurteilen solche Abschiede vom Jetztzustand aus. Menschen, die das Autofahren aufhören, sehen das oft ganz anders. Sie sagen, mir wird das Autofahren zu mühsam, ich mag nicht mehr im Stau stehen und Parkplatz suchen. Es geht darum, nicht alles von der Jetztzeit aus zu sehen und es auf das Alter zu projizieren.
Ich selbst war eine leidenschaftliche Windsurferin. Irgendwann habe ich das Gefühl gehabt, ich habe nachher einen steifen Nacken. Daher habe ich keine neue Ausrüstung mehr gekauft und das Windsurfen ganz locker aufgegeben. Wenn ich heute Surfern am Meer zusehe, tue ich das mit größtem Vergnügen. Ich weiß, das habe ich gehabt. So wie das Tiefschneefahren. Dazu kann ich in der Fantasie jederzeit zurückgehen und spüren, wie es sich anfühlt. Heute weiß ich auch, dass ich immer gern geschwommen bin. Ich schwimme jetzt noch viel lieber. Ich bin also noch im Wasser, nicht als Surferin, aber als Schwimmerin.
SN: Der Lebensrückblick ist in Ihrem Buch ein großes Thema. Wie geht man mit dem um, was nicht gelang? Wie fällt der Rückblick positiv aus?
Ich weiß gar nicht, ob er positiv sein muss. Es gibt Dinge, die gelingen, und solche, die nicht gelingen. Was es braucht, ist ein freundlicher Blick auf mein Leben. Dass man nicht eine Bilanz macht, sei sie positiv oder negativ, sondern sagt, es ist mein Leben. Ich habe dieses gemacht und jenes. Und ich habe manches nicht realisiert. Am meisten bedauern Menschen, wenn sie ihre Beziehungen nicht gut gelebt haben. Wenn sie das Gefühl haben, einem Menschen viel schuldig geblieben zu sein. Aber das war dann so. Das kann man weder positivreden, noch muss man sich deshalb zerfleischen. Man kann nur versuchen, es in der restlichen Zeit besser zu machen.
SN: Sie sagen, das Alter sei immer wieder für Überraschungen gut. Was hat Sie überrascht?
Ich bin 75 und vollkommen verblüfft, wie belastungsfähig ich bin und wie emotional ausgeglichen. Ich bin früher sehr leicht explodiert und kann heute vieles viel leichter nehmen. Ich habe auch Zeit, Erlebnisse, etwa in der Natur, zu vertiefen. Das ist etwas Wunderbares. Oder wenn ich mich früher geärgert habe, dass das Leben manchmal nicht so ist, wie ich es mir vorstelle, kann ich heute sagen: Es ist nicht so, es ist aufregend, überraschend.
SN: Wie halten Sie es im Alter mit Interessen und Träumen?
Es ist ein Unterschied zu den Träumen der Jugend, in denen man sich vorstellt, ich möchte dieses werden oder jenes erleben. Heute gehe ich vielen Interessen nach, die mich ansprechen und lebendig machen. Wenn ich an einem Buch oder Artikel schreibe, ist das etwas, was mich bewegt. Mich interessiert, was aus den Kindern und Enkeln wird. Mich interessiert politisch, wie wir den Übergang schaffen in virtuelle Welten. Werden wir humaner oder werden wir Zombies? Das interessiert mich sehr.
SN: Auch wenn Sie es nicht mehr erfahren oder erleben werden?
Das kann gut sein. Ich bin traurig, dass ich nicht zur richtigen Zeit geboren bin. Ich wäre sehr gern ins Weltall geflogen. Das ist ein Traum, den ich beiseite gelegt habe.
SN: Kommt er noch manchmal auf?
Wenn ich eine dieser wunderschönen Aufnahmen der Erde vom Weltraum aus sehe, dann denke ich: Das hätte ich auch gern gesehen. Aber ich hab so viel gehabt. Das kann ich einfach lassen.
SN: Ist das der Kern der Zufriedenheit?
Ja, dass man das, was war, nicht abwertet, sondern es in seinem Wert weiter erfährt.