Auf in die Natur und die Gitarre nicht vergessen!
Vor einem halben Jahrhundert änderten The Band mit „Music from Big Pink“den Kurs der Rockmusik: Aus der Stadt ging’s auf das Land.
Die Herren waren für Popmusiker schon alt (und sahen hinter ihren Bärten auch so aus), als sie alles neu beginnen ließen. Dabei waren sie alle erst Ende 20. Und sie kannten das Geschäft. Und alle waren sie hervorragende Musiker, alle an mehreren Instrumenten. Und wer sich heute, nach einem halben Jahrhundert, ihr Album „Music from Big Pink“anhört, muss dennoch staunen, dass die elf Songs mit ihren dichten Arrangements, raffinierten Feinheiten und komplexen Texten von Debütanten stammen.
Sie waren Neulinge, was die Veröffentlichung eines Albums betrifft. Aber sie waren erfahren, was das Musizieren betraf. Die Herren, die sich so unprätentiös wie einprägsam The Band nannten, hatten einen epochalen Schritt in der Popgeschichte mitgemacht. Und mit ihrem Album „Music from Big Pink“änderten sie schließlich den Lauf der Geschichte der Rockmusik. Wie sie das machten, lässt sich zum Jubiläum in exquisit aufgemachten Sonderausgaben studieren.
Als das Album im Juli 1968 herauskam, waren Levon Helm, Robbie Robertson, Rick Danko, Richard Manuel und Garth Hudson gut erprobt – und zwar wegen einer Tour mit Bob Dylan. Sie waren die Band, mit der Dylan es wagte, auf der Bühne dem Folk den Rücken zuzukehren und die E-Gitarre einzustecken. The Band waren die Männer, denen Dylan im Mai 1966 in der Free Trade Hall in Manchester ein „Play fucking loud“zuraunte. Zuvor hatte jemand aus dem Publikum Dylan als „Judas“beschimpft. Die Folkfans sahen sich von ihrem Idol verraten, weil er Rock spielte. Und The Band waren auch die Männer, mit denen sich Dylan nach seinem Motorradunfall in ein Haus in den Catskill Mountains, zwei Stunden von New York entfernt, zurückzog. Ein Haus, lachsfarben und als Big Pink mittlerweile eine der heiligen Stätten der Popkultur.
Zum 50. Jahrestag gibt es, was in Big Pink aufgenommen wurde, neu abgemischt von Bob Clearmountain und erweitert um sechs Bonustracks (darunter auch eine A-cappella-Version von „I Shall Be Released“). Der Sound ist klarer. Die Konturen sind schärfer als bei bisherigen Veröffentlichungen. Dennoch bleiben die Wärme und Intimität erhalten, mit denen erzählt wird. Und beides ist wichtig. Es geht nämlich um nichts anderes als die Schaffung eines Ortes des Rückzugs durch Musik, die von dort bis heute zu immer neuen Abenteuern aufbricht. „Music from Big Pink“gab für die Beschäftigung mit musikalischer Tradition eine ähnliche Initialzündung, wie David Henry Thoreaus „Walden“es für Naturliebhaber tat. Thoreau beschreibt in seinem Selbstversuch die Hinwendung zum einfachen Leben. Auch The Band beschwören – in den Texten oft mit biblischen Anspielungen – grundsätzlich wichtige Dinge und machen das durch eine Rückbesinnung auf musikalische Wurzeln. Während in den späten 1960er-Jahren ausufernde psychedelische Musik die Grenzen des Hörbaren ausweitete, konzentrierten sich The Band aufs Wesentliche, gruben in Blues und Folk, in Soul und Ur-Rock und vermengten das alles zu einem ganz neuen Sound. Viele der Songs hören sich auch an wie Sessions, in denen einfach losgespielt wurde.
The Band legten ein Fundament, auf das bis heute das gesamte Genre „Americana“aufbaut – egal ob in klassischem Songwriting oder im Bereich des „Alternative Country“. Die Ersten, die damals darauf aufbauten, waren etwa The Byrds, die mit Gram Parsons den Countryrock erfanden. Selbst bei den Beatles fanden sich ein Jahr nach „Music from Big Pink“auf dem „White Album“plötzlich Folk, Blues und Rock. Die Rolling Stones besannen sich auf „Beggars Banquet“ihrer Blues-Wurzeln. Creedence Clearwater Revival tauchten in den Swamprock. Und Dylan wurde Cowboy und tauchte aus dem Aufnahmekeller von Big Pink mit „Nashville Skyline“auf. Was The Band und Dylan in Big Pink gemeinsam erspielten, kursierte lange geheimnisvoll als Bootleg. Teile erschienen 1975 als „The Basement Tapes“. In seiner Gesamtheit wurde dieser Schatz musikalischer Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung erst vor vier Jahren unter dem Titel „The Basement Tapes Complete“offiziell herausgegeben.
Über die Basement-Sessions wurden Essays, Romane und Doktorarbeiten geschrieben. Und aus diesen Sessions war in zwei Wochen im Frühjahr 1968 eben auch „Music from Big Pink“entstanden. Über das Resultat sagte Eric Clapton, als er 1992 beim Konzert zum 30. Bühnenjubiläum Dylans den Auftritt von The Band ankündigte: „Ich hörte ein Album namens ,Music from Big Pink‘. Es änderte mein Leben. Ja, es änderte den Kurs der amerikanischen Musik.“Tatsächlich löste Clapton seine Band Cream unter dem Einfluss dieses Albums auf. Der uferlose Rock von Cream sei an sein Ende gelangt, meinte Clapton und begann sich dem Blues zu widmen. Im Rock hatte eine neue Zeitrechnung begonnen, die eine Zukunft entwarf, ohne das Alte zu verwerfen.