Philosophicum Lech über Werte „Der geistige Lebensraum muss geschützt werden“
In digitalen Medien werden binnen Sekunden nicht nur Fakten, sondern auch Fake News veröffentlicht. Welche Verantwortung hat jeder dafür?
Der Medienwissenschafter Bernhard Pörksen forderte im SN-Gespräch beim Philosophicum Lech ein neues Öffentlichkeitsbewusstsein – ähnlich, wie sich das Umweltbewusstsein entwickelt habe. SN: Sie fordern mehr Verantwortung von den Nutzern der neuen Medien. Warum soll der Einzelne die Verantwortung übernehmen, die Facebook & Co. verweigern? Pörksen: Wir alle haben heute Verantwortung, weil jeder zum Sender geworden ist. Jeder kann sich in die öffentliche Debatte zuschalten. Jeder kann mit dem Smartphone in der Hand versuchen, ein Thema zu setzen und ein Publikum zu finden. Das heißt, jeder hat im digitalen Zeitalter auch eine publizistische Verantwortung. Die Frage, die sich bisher nur Journalisten stellen mussten – „Was ist eine glaubwürdige und veröffentlichungswürdige Information?“–, stellt sich heute für jede und jeden.
Aber selbstverständlich haben die Plattformen und sozialen Netzwerke eine besondere Verantwortung, nicht nur, weil sie sehr mächtig sind, weil sie den Werbemarkt bestimmen, sondern weil sie durch ihre intransparenten Algorithmen das Wirklichkeitsbild von Milliarden von Menschen mitprägen. SN: Es gibt weitreichende Forderungen, dass Menschen sich erst demokratiepolitisch bilden müssten, bevor sie sich in sozialen Netzwerken verbreiten dürfen. Welchen Anspruch haben Sie an die Nutzer der digitalen Medien? Ich verfechte in meinem aktuellen Buch über die große Gereiztheit eine Bildungsvision, die ich „die redaktionelle Gesellschaft“nenne. Guter Journalismus hat Maximen: Prüfe erst, publiziere später! Höre immer auch die andere Seite! Analysiere deine Quellen! Beurteile die Relevanz einer Nachricht! Diese Maximen des guten Journalismus müssen heute zur Allgemeinbildung werden. Die Verbreitung von Nachrichten ist extrem schnell geworden. Aber Wahrheit und Wahrheitsfindung brauchen Zeit.
Ich glaube, dass hier die Schulen die Aufgabe haben, durch ein eigenes Fach die Medienmündigkeit der jungen Menschen zu fördern. Bildungspolitik und Medienpädagogik sollten sich endlich von dem floskelhaften Gerede über die Medienkompetenz lösen, die nur als technische Beherrschbarkeit der neuen Medien verstanden wird, und eine werteorientierte Debatte fördern.
Es muss etwas entstehen, was man Öffentlichkeits- und Qualitätsbewusstsein in der Verbreitung von Nachrichten nennen könnte. Denn es ist für ein demokratisches Gemeinwesen fatal, wenn die Öffentlichkeit verschmutzt, ausgebeutet und von Desinformation bis hin zu Hass und Gewalt überflutet wird. SN: Sie haben als Beispiel das Umweltbewusstsein genannt, das seit den 1970er-Jahren entstanden sei. So ähnlich solle sich ein neues Öffentlichkeitsbewusstsein entwickeln. Wie lange haben wir Zeit? Wir müssen überhaupt erst mal diese Aufgabe entziffern. Über Bildung im digitalen Zeitalter wird viel zu technokratisch nachgedacht, als würde besseres WLAN schon etwas bewirken, als sei es eine Lösung, wenn jeder Schüler sein eigenes Tablet hat. Ich bin da gar nicht dagegen, aber ich bin sehr dafür, dass wir diese Debatte werteorientiert weiterentwickeln.
Der geistige Lebensraum einer liberalen Demokratie – und das ist die Öffentlichkeit – muss geschützt werden. In diesem Sinne gilt auch, dass Menschen ein Kosten- und Qualitätsbewusstsein brauchen. Sie müssen wissen, wie teuer und kostenintensiv journalistisch verantwortete Information ist. SN: Müsste nicht die Politik bei den Kosten umschichten? Facebook und Google belasten und den Qualitätsjournalismus entlasten? Ist hier nicht die Kostenwahrheit vor allem bei den Steuern extrem verzerrt? Das kann man so sehen. Ich sehe die Hauptaufgabe aber darin, dass wir durch Medienbildung in einer breiten Öffentlichkeit etwas entwickeln, was man redaktionelles Bewusstsein nennen könnte. Dann sind, so ist meine Hoffnung, Menschen auch bereit, für Information auch entsprechend zu bezahlen. SN: Die Verschmutzung der Öffentlichkeit kommt auch durch den Hype zustande, durch Sensationsnachrichten. Wird dieser Hype von den Medien erzeugt oder decken diese nur ein Bedürfnis ab? Beides trifft zu. Auf der einen Seite kommt die Art der Informationsorganisation im digitalen Zeitalter unserer Bestätigungssehnsucht entgegen. Es befriedigt unser Interesse am Klatsch und unsere Faszination für das Böse, das Negative. Auf der anderen Seite wird diese Tendenz durch die digitalen Medien massiv befördert und verstärkt. Es geht um Echtzeitquoten, um das, „was jetzt gerade so richtig performt“. Das begünstigt die Übertreibung und es entsteht der Anschein, dass an dem, was alle überall sehen, doch auch etwas dran sein müsse. SN: Viele Menschen beschweren sich, dass nur schlechte Nachrichten über sie hereinstürzen würden. Warum hat die gute Nachricht so wenig Chance? Aus meiner Sicht ist das ein evolutionsbiologisches Erbe. Wir finden den Hinweis auf die mögliche Gefahr, auf den Schrecken, relevanter, weil wir darauf geeicht sind, einer möglichen Gefahr auszuweichen. Aber es gibt auch positive Entwicklungen. Menschen denken zunehmend nach, welchen positiven, konstruktiven Lösungsansatz man finden kann. Den absoluten Negativismus kann niemand wollen.
„Für jeden gilt, prüfe zuerst deine Quelle.“Bernhard Pörksen, Medienwissenschafter
Bernhard Pörksen, Medienwissenschafter an der Universität Tübingen, hat mit seinen Thesen beim Philosophicum Lech große Aufmerksamkeit erregt. Sein Buch dazu ist „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“(256 S., 22,70 Euro, Hanser 2018). Das 23. Philosophicum Lech wird sich vom 25. bis 29. September 2019 mit dem Thema „Die Werte der Wenigen. Eliten und Demokratie“auseinandersetzen. Info: