„Demokratie ist nach wie vor stabil“
Heinz Fischer zum 80er: Ein Gespräch über demokratische Turbulenzen, den österreichischen Innenminister, die Signifikanz des Jahres 1872 und eine gewisse Partei, „die aus der Geschichte zu wenig gelernt“hat.
SN: Wie beurteilen Sie als bekennender Sozialdemokrat das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte quer durch Europa? Heinz Fischer: Ich beurteile dieses Phänomen als eine Phase der Geschichte, die mir in vielen Punkten keine Freude macht, die ich aber nicht als Endzustand betrachte. Und nicht als unabänderlich. Meiner Beobachtung nach ist die Politik oft durch eine gewisse Schwankungsbreite gekennzeichnet. Das, was wir derzeit erleben, ist eine Zone von Turbulenzen, die wir hoffentlich wieder hinter uns lassen werden. SN: Sie meinen also, es kommen wieder andere Zeiten? Es kommen sicher andere Zeiten und ich glaube, dass das liberalere, humanistischere, pluralistischere Element wieder eine größere Rolle spielen wird. Und ich glaube nicht, dass eine illiberale Demokratie – was ja ein Widerspruch in sich selbst ist – die Dauerantwort auf die Probleme der Zukunft sein kann. SN: Es passieren aber durchaus Dinge, die unumkehrbar sind, zumindest für absehbare Zeit. Ich denke beispielsweise an den Brexit. Das ist auch einer der Gründe, warum mein Vertrauen in die plebiszitäre Demokratie kein unbegrenztes ist. Der Vorteil der parlamentarischen Demokratie ist es, dass die Dinge nach allen Richtungen überlegt werden können, These und Antithese, Vorschlag und Gegenvorschlag einander gegenüberstehen. Während in der plebiszitären Demokratie Hop- oder Drop-Entscheidungen fallen. Dabei kommen nicht immer die besten Lösungen heraus. Der Brexit ist ein Musterbeispiel dafür. SN: Nicht nur Politiker stecken in einer Vertrauenskrise, diese Krise betrifft auch Medien und sonstige Meinungseliten. Beunruhigt Sie diese Entwicklung? Ich habe starke Erinnerungen daran, dass das Thema „Demokratieverdrossenheit“schon in der angeblich guten alten Zeit eine große Rolle gespielt hat. Der Sozialdemokrat, Gewerkschafter und spätere Bawag-Chef Fritz Klenner hat bereits in den Fünfzigerjahren über das „Unbehagen in der Demokratie“geschrieben. Auch SN-Chefredakteur René Marcic war in den Sechzigerjahren einer der Artikulatoren dieses Phänomens. Gegen dieses Phänomen muss man ankämpfen, gegen dieses Phänomen kann man auch etwas tun. SN: Demokratieverdrossenheit ist also ein altes Problem? Ja. Es gibt natürlich keine perfekte Demokratie. Mich irritiert nicht Unbehagen oder Kritik an der Demokratie, sondern mich irritiert, wenn man diese Kritik wegzudrücken versucht oder gar die Möglichkeiten zur kritischen Hinterfragung der Demokratie beeinträchtigt. Beispielsweise nach der Methode, zwischen braven und schlimmen Medien zu unterscheiden. Und die, die schlimm sind, kriegen weniger Information. SN: Apropos Kickl: Was hätten Sie als Bundespräsident getan, hätten Sie einen Innenminister wie Herbert Kickl in der Regierung gehabt? Ich habe mir vorgenommen, die Amtsführung meines Nachfolgers, dessen Wahl ich öffentlich empfohlen habe, nicht zu kritisieren oder zu kommentieren. Im konkreten Fall hat Bundespräsident Van der Bellen sogar aus New York eine kritische Bemerkung gemacht, und das war völlig richtig. SN: Kann ein Minister wie Herbert Kickl die Demokratie gefährden? Ich glaube, dass unsere Demokratie nach wie vor stabil ist. Ich habe auch keine Lust, den Herrn Innenminister in seiner Wirksamkeit zu überschätzen. Ich denke, dass wir genug Demokraten haben, die in der Lage sind, solche Äußerungen und Verhaltensweisen in die Schranken zu weisen. SN: Sie überblicken rund sechseinhalb Jahrzehnte Innenpolitik. Hat sich in dieser Zeit Fundamentales geändert? Sicher, und zwar ganz entscheidend. Das eine ist die Veränderung der Medienlandschaft und der Informationsgeschwindigkeit, was gravierende Auswirkungen auf die Politik hat. Unter anderem, weil die Nachdenkzeit, die ein Politiker zur Verfügung hat, radikal kürzer wurde. Ebenso radikal haben sich die soziologischen Strukturen in der Bevölkerung geändert. Das Proletariat, das einst zwei Drittel der Bevölkerung umfasste, gibt es in dieser Form nicht mehr. Die dritte ent- scheidende Änderung besteht darin, dass die Parteien heute eine ganz andere, nämlich eine viel kleinere Rolle spielen. Im Übrigen empfiehlt es sich nachzurechnen: Die Zweite Republik ist jetzt 73 Jahre alt. Wenn ich von 1945 73 Jahre zurückrechne, lande ich im Jahr 1872. Stellen Sie sich vor, was sich zwischen 1872 und 1945 alles geändert hat. 1872 war Karl Marx noch am Leben, der österreichisch-preußische Krieg lag erst sechs Jahre zurück, die Sozialdemokratie war noch nicht gegründet. Daher dürfen wir nicht überrascht sein, dass sich auch in den 73 Jahren seit 1945 unglaublich viel ereignet hat – und in mancher Hinsicht, nämlich was die technische Entwicklung betrifft, sogar noch mehr als in den 73 Jahren vor 1945. Wir dürfen uns also nicht wundern, wenn das politische System heute anders funktioniert als zur Zeit unserer Großeltern. SN: Ist die Demokratie dadurch besser und stabiler geworden? Oder ist das Gegenteil der Fall? Das ist im Einzelfall zu beurteilen. Doch manches wurde eindeutig besser. Denken Sie daran, dass es heute in Europa und auf der Welt wesentlich weniger Diktaturen und wesentlich mehr Demokratien gibt als vor 80 oder 100 Jahren; es gibt auch mehr Kinder, die in die Schule gehen, und weniger krasse Armut. Die neuen Technologien haben die Welt als Ganzes und daher auch die Politik transparenter gemacht, was gut ist, aber auch negative Auswirkungen hat, siehe die Auswüchse der sogenannten sozialen Medien. SN: Was wünschen Sie der Republik zum 100. Geburtstag? Eine stabile, auf den Errungenschaften der Aufklärung basierende, demokratische, pluralistische Entwicklung. Eine Entwicklung, bei der die Menschenwürde gewahrt wird und bei der man sich bemüht, das Prinzip der Menschenwürde auf alle, die in diesem schönen Land leben, bestmöglich auszudehnen. Und niemand ausgegrenzt wird, weil man glaubt, dass es parteitaktische Vorteile bringt, wenn man Zielscheiben für Aversionen oder sogar Aggressionen produziert. SN: Richtet sich diese indirekte Kritik gegen die Regierung? Oder gegen eine bestimmte Partei? Sie richtet sich gegen eine bestimmte Haltung, die zeigt, dass man aus der Geschichte zu wenig gelernt hat. Diese Haltung ist nicht gleichmäßig auf alle Parteien verteilt, sondern wird von einer bestimmten Partei, die Begriffe wie „Asyltourismus“erfunden hat, besonders gepflegt.