Nur mehr Pragmatismus löst den Brexit-Streit
Brüssel, das sich bisher stur und überheblich gegenüber London zeigt, sollte in der Brexit-Frage einen Schritt auf das Königreich zugehen.
Wäre der in ein Baugerüst eingehüllte Big Ben derzeit nicht wegen einer Renovierungspause verstummt, müssten die Glocken des Londoner Wahrzeichens nun zur elften Stunde schlagen. So bezeichnen die Briten es, wenn nur wenig Zeit für eine dringliche Entscheidung bleibt. Die Brexit-Verhandlungen zwischen der EU und dem Königreich sind genau hier angekommen. Seit Monaten ziehen sich die Gespräche zäh hin, ohne dass eine Seite zu Kompromissen in den Kernfragen bereit zu sein schien.
Plötzlich dringen positive Töne aus den Hinterzimmern. Steht ein Durchbruch bevor? Bisher klingt das leider mehr nach Wunschdenken als nach Realität. Beim größten Bremsklotz der Verhandlungen, der Irland-Frage, zeichnet sich nämlich noch immer kein Konsens ab. Wie wollen die beiden Seiten eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland im Notfall vermeiden?
Brüssel wünscht eine Lösung, die im Grunde die Integrität des Binnenmarkts über jene des britischen Staats stellt. So würde ein Teil des Königreichs nach EU-Recht geregelt, über das die britischen Abgeordneten keinerlei Mitspracherecht hätten. Diesen Vorschlag durch das Parlament zu bekommen ist undenkbar in einem Land, wo das politische Getöse beim Thema EU zuweilen unerträglich laut wird.
Das Problem für Premierministerin Theresa May? Sie kämpft gleich an mehreren Fronten. Die vergangenen 48 Stunden haben gezeigt, dass die nordirische Unionistenpartei DUP nicht nur blufft. Sie meint es ernst mit den Drohungen, der Regierungschefin im Unterhaus die Gefolgschaft zu versagen. Die Tories sind seit dem Verlust der absoluten Mehrheit auf deren Stimmen angewiesen. Nun rächt sich der Pakt mit der erzkonservativen Kleinpartei. Die DUP will keinerlei Warenkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Königreichs akzeptieren. Gleichzeitig lehnen auch die Hardliner in den konservativen Reihen eine separate Zollunion für den nördlichen Landesteil ab. Der Druck auf May, ihren Kurs zu ändern, wächst unaufhörlich.
London und Brüssel wissen, dass es im beiderseitigen Interesse ist, eine Scheidung ohne Austrittsvertrag zu vermeiden. Bereits am 29. März 2019 verlässt das Königreich die EU – und ohne gültiges Abkommen droht ein ungeordneter Brexit, der beträchtlichen politischen und wirtschaftlichen Schaden anrichten könnte. Wird May einen Kompromiss eingehen? Man könnte ein vages Resultat in der Grenzfrage formulieren, mit dem beide Seiten leben können.