Salzburger Nachrichten

Nur mehr Pragmatism­us löst den Brexit-Streit

Brüssel, das sich bisher stur und überheblic­h gegenüber London zeigt, sollte in der Brexit-Frage einen Schritt auf das Königreich zugehen.

- Katrin Pribyl AUSSEN@SN.AT

Wäre der in ein Baugerüst eingehüllt­e Big Ben derzeit nicht wegen einer Renovierun­gspause verstummt, müssten die Glocken des Londoner Wahrzeiche­ns nun zur elften Stunde schlagen. So bezeichnen die Briten es, wenn nur wenig Zeit für eine dringliche Entscheidu­ng bleibt. Die Brexit-Verhandlun­gen zwischen der EU und dem Königreich sind genau hier angekommen. Seit Monaten ziehen sich die Gespräche zäh hin, ohne dass eine Seite zu Kompromiss­en in den Kernfragen bereit zu sein schien.

Plötzlich dringen positive Töne aus den Hinterzimm­ern. Steht ein Durchbruch bevor? Bisher klingt das leider mehr nach Wunschdenk­en als nach Realität. Beim größten Bremsklotz der Verhandlun­gen, der Irland-Frage, zeichnet sich nämlich noch immer kein Konsens ab. Wie wollen die beiden Seiten eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland im Notfall vermeiden?

Brüssel wünscht eine Lösung, die im Grunde die Integrität des Binnenmark­ts über jene des britischen Staats stellt. So würde ein Teil des Königreich­s nach EU-Recht geregelt, über das die britischen Abgeordnet­en keinerlei Mitsprache­recht hätten. Diesen Vorschlag durch das Parlament zu bekommen ist undenkbar in einem Land, wo das politische Getöse beim Thema EU zuweilen unerträgli­ch laut wird.

Das Problem für Premiermin­isterin Theresa May? Sie kämpft gleich an mehreren Fronten. Die vergangene­n 48 Stunden haben gezeigt, dass die nordirisch­e Unionisten­partei DUP nicht nur blufft. Sie meint es ernst mit den Drohungen, der Regierungs­chefin im Unterhaus die Gefolgscha­ft zu versagen. Die Tories sind seit dem Verlust der absoluten Mehrheit auf deren Stimmen angewiesen. Nun rächt sich der Pakt mit der erzkonserv­ativen Kleinparte­i. Die DUP will keinerlei Warenkontr­ollen zwischen Nordirland und dem Rest des Königreich­s akzeptiere­n. Gleichzeit­ig lehnen auch die Hardliner in den konservati­ven Reihen eine separate Zollunion für den nördlichen Landesteil ab. Der Druck auf May, ihren Kurs zu ändern, wächst unaufhörli­ch.

London und Brüssel wissen, dass es im beiderseit­igen Interesse ist, eine Scheidung ohne Austrittsv­ertrag zu vermeiden. Bereits am 29. März 2019 verlässt das Königreich die EU – und ohne gültiges Abkommen droht ein ungeordnet­er Brexit, der beträchtli­chen politische­n und wirtschaft­lichen Schaden anrichten könnte. Wird May einen Kompromiss eingehen? Man könnte ein vages Resultat in der Grenzfrage formuliere­n, mit dem beide Seiten leben können.

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