Sprechen Sie Lëtzebuergesch?
Den berühmtesten Luxemburger, Jean-Claude Juncker, kennt in Europa fast jeder. Was Europas reichstes Land vor der nächsten Wahl am kommenden Sonntag umtreibt, überrascht.
Was zuerst auffällt, ist der dichte Verkehr. Ein stockender Strom von Autos und Lkw wälzt sich permanent durch Luxemburg. Verlangsamt wird der Blechwurm durch Baustellen, weil Brücken zu sanieren und Straßen auszubessern sind. In der Früh und am Abend ist das kaum 2500 Quadratkilometer kleine Großherzogtum Luxemburg – eingekeilt zwischen Frankreich, Deutschland und Belgien – eine unüberbrückbare Hürde für den Durchzugsverkehr und eine tägliche Herausforderung für die 200.000 Grenzgänger, die aus den Nachbarländern einpendeln. Kommen dann noch Probleme mit der Bahn dazu, wie derzeit, steht alles.
Kein Wunder also, dass sich die Parlamentswahlen, die am kommenden Sonntag im reichsten und – nach Malta – zweitkleinsten EULand stattfinden, um Staus und überlastete Infrastruktur drehen. Oder vielmehr um die Ursache davon: das starke Wachstum von fast vier Prozent, das noch mehr Menschen anzieht und die „echten“Luxemburger (70 Prozent davon im Staats- oder staatsnahen Dienst) tagsüber schon zur Minderheit im eigenen Land macht.
Auch von den rund 600.000 Einwohnern hat knapp die Hälfte keinen Luxemburger Pass – und daher kein Wahlrecht. Viele der Portugiesen oder Italiener, die schon in zweiter Generation im Land sind, haben sich nie um die ohnehin schwierig zu erreichende Luxemburger Staatsbürgerschaft bemüht. Dazu kommen Tausende „Eurokraten“bei den in Luxemburg angesiedelten EU-Einrichtungen, vom Europäischen Gerichtshof über den EU-Rechnungshof bis zu Eurostat.
Die linksliberale Koalition von Premier Xavier Bettel, die seit 2014 regiert, hat gleich zu Beginn ein Referendum über ein Ausländerwahlrecht angesetzt, um das zu ändern. Doch 80 Prozent der Luxemburger stimmten dagegen. Das Ergebnis war ein ziemlicher Dämpfer für die Regierung. Vor allem aber hat das Referendum eine Debatte um die Luxemburger Identität und die Sprache ausgelöst, die jetzt den Wahlkampf dominiert.
„Alle Parteien sind in einem Wettlauf, wer der bessere Patriot ist“, ärgert sich Sergio Ferreira, Sprecher des Vereins ASTI, der sich für Neuankömmlinge in Luxemburg einsetzt. Das habe Ressentiments gegenüber „nicht echten Luxemburgern“geweckt, obwohl es keine soziale Kluft gebe. „Es ist ein wenig surreal, die Diskussion zu verfolgen“, sagt Ferreira.
Fred Keup, der bekannteste Geografieprofessor des Landes, der mit seiner „Nee“-Kampagne maßgeblich zum Scheitern des Ausländerwahlrechts-Referendums beigetragen hat, sieht sehr wohl Probleme durch das Bevölkerungswachstum. Luxemburg gehe es gut, „aber das Geld fließt nicht für jeden“, sagt er im Wohnzimmer seines Hauses im Vorort Mamer, wo die Grundstückspreise wie überall explodieren. Noch mehr fürchtet er aber um die eigene Sprache, „die Teil unserer Identität ist – und das, was alle Luxemburger gemeinsam haben“. Heute werde man beim Bäcker oder im Krankenhaus oft nicht verstanden, weil Mitarbeiter und Ärzte nur Französisch, aber nicht „Lëtzebuergesch“sprechen.
Das ist für Nichtluxemburger gar nicht so einfach. Der moselfränkische Dialekt wurde bis in die 1970er-Jahre nicht geschrieben, erst seit Mitte der 80er-Jahre ist Lëtzebuergesch neben Deutsch und Französisch Amtssprache. Auch heute lernen Kinder in der Schule mit deutschen und später französischen Schulbüchern. Vorgetragen wird auf Lëtzebuergesch – das für viele Neo-Luxemburger unverständlich ist. In E-Mails und den sozialen Medien wird heute weitgehend luxemburgisch geschrieben.
Der Luxemburger Historiker Benoît Majerus hält die Angst vor dem Aussterben von Lëtzebuergesch für „totalen Schwachsinn“und für ein vorgeschobenes Argument zur Ausgrenzung. Heute gebe es Bücher und Comics in der Landessprache.
Dass die liberale DP von Bettel auf den Plakaten für eine „Zukunft op Lëtzebuergesch“wirbt und im Parlament kürzlich ein 40-PunkteProgramm für die Sprache beschlossen wurde, hat laut Majerus mit der 200 Jahre verspäteten Nationsbildung von Luxemburg zu tun. Langsam könnte das Land aber „aus der Pubertät rauskommen“, sagt er.
Fred Keup hat sich für die Wahlen mit der Alternativen Demokratischen Reformpartei (ADR) zusammengetan, einer rechtspopulistischen Partei, die am Sonntag kräftig zulegen könnte. Für Keup ist die ADR eher „sozial-konservativ“, wie die bayerische CSU vor 20 Jahren. Aus Sicht von Meris Sehovic, Sprecher der jungen Grünen, hat sich durch die ADR dennoch vieles verändert: „Der Diskurs ist nach rechts gerutscht – und das ist ein Phänomen, das es hier bisher nicht gab.“