„Meine Freunde haben mich gehänselt“
Essstörungen lösen bei den Betroffenen häufig Scham und Schuldgefühle aus. Schönheitsideale führen dazu, dass „Mollige“gemobbt werden. Wie können sie dem Teufelskreis von Essen und Erbrechen entkommen?
Wenn Mädchen mit Essstörungen nach möglichen Ursachen ihrer Krankheit gefragt werden, gehört diese Antwort beinahe zum Standard: „Meine Freundinnen und Freunde habe mich gehänselt.“Oder die Mitschüler oder – was am meisten wehtut – die Eltern.
Schief angesprochen oder angesehen zu werden ist häufig der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Besonders kritisch ist das in ohnehin sensiblen Zeiten der persönlichen Entwicklung wie in der Pubertät oder in der Phase der Ablösung vom Elternhaus. „Wenn Mädchen mit Übergewicht in diesen Lebensphasen von anderen beschämt und vorgeführt werden, dann kann es sein, dass sie mit einer Radikaldiät beginnen, mit der sie nicht mehr aufhören können“, sagt Hermine Steininger, klinische Psychologin und systemische Therapeutin beim Frauengesundheitszentrum Salzburg.
Die Folge ist Magersucht, die abgesehen von Hänseleien und Kränkungen durch zwei gesellschaftliche Trends begünstigt wird: das Ideal des schlanken Körpers und die zunehmende Zahl von Menschen, die alternativen Essgewohnheiten oder besonderen Diäten folgen. „Mir fällt in der Beratung und Therapie im Frauengesundheitszentrum auf, dass viele junge Frauen nicht mehr wissen, was einer üblichen Nahrungszufuhr entspricht“, sagt Steininger. „Andererseits wissen sie genau über die Kalorien einzelner Nahrungsmittel Bescheid, und vor allem kennen sie alle denkbaren Unverträglichkeiten. Denn diese lassen sich als gute Begründung dafür nützen, dass man wenig Nahrung zu sich nimmt.“
Mit der Magersucht wird der Kreis jener Lebensmittel immer größer, die wegen „zu viel Zucker“oder „zu viel Fett“verpönt sind. „Selbstverständlich ist eine ausgewogene gesunde Ernährung wichtig“, sagt die Psychologin und Therapeutin. „Krankhaft wird es aber dann, wenn man vor jedem Bissen anfängt nachzudenken, wie viele Kalorien er enthält und ob das nun erlaubt ist oder nicht.“Frauen mit Magersucht berichteten häufig, „das Schlimmste ist, dass ich immer daran denken muss“.
Eine Psychotherapie hat freilich erst dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Patientin „krankheitseinsichtig“ist. Dieser Leidensdruck ist meist dann erreicht, wenn die junge Frau sich nach jedem Essen erbrechen muss und nichts mehr dagegen tun kann. Dann kippt die bisherige „Lösung“des Problems in den völligen Kontrollverlust. Steininger schildert diese Entwicklung so: „Am Anfang erscheint das Erbrechen als Lösung, weil die Patientin sich sagt: Ich darf zwar auf keinen Fall zunehmen, aber ich kann ruhig essen, weil ich ohnehin alles erbreche. Diese Lösung wird aber zum Problem, wenn das Erbrechen sich zwangsläufig nach jeder Nahrungsaufnahme einstellt und die Patientin es nicht mehr verhindern kann.“
Ähnlich verhält es sich mit der anfänglichen Bewunderung, die die junge Frau dafür bekommt, „dass du so schön abgenommen hast“. Diese Bewunderung hört langsam auf, wenn die Betroffene extrem mager wird. „Dann ist das Abnehmen aber schon außer Kontrolle geraten und die Patientin kann allein nicht mehr damit aufhören“, sagt die Psychologin des Frauengesundheitszentrums. „Die Angst vor dem Zunehmen hat sich dann aber so festgesetzt, dass selbst eine begonnene Therapie immer wieder einmal unterbrochen wird.“Bis hin zum extremen Rückfall: Eine Frau war mit 15 magersüchtig und ist – nach zwischenzeitlicher langjähriger Besserung – mit 35 Jahren wieder auf 29 Kilogramm abgemagert.
Im Schnitt kann Magersucht bei einem Drittel der Betroffenen geheilt werden, bei einem weiteren Drittel wird das Essverhalten deutlich besser, beim dritten Drittel wird die Magersucht chronisch. Schockierend ist, dass Magersucht die häufigste Todesursache von Mädchen in der Pubertät ist.
„Magersucht ist auch deshalb eine sehr belastende Krankheit, weil sie im gesamten Familiensystem Scham und Schuldgefühle auslöst“, sagt die Kinderärztin, Schulärztin und Therapeutin Ulrike Girardi. „Wir versuchen daher, die jungen Frauen und ihre Eltern zu überzeugen, dass es sich um eine Krankheit handelt, über die man sprechen muss. Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig, dass nicht das ganze Familienleben dem Thema Magersucht untergeordnet wird.“
Girardi wies im SN-Gespräch darauf hin, dass Essstörungen auch bei Burschen zunehmen würden. „Fitness und Sixpack werden für die Jugendlichen ab dem Alter extrem wichtig, ab dem sie den Mädchen gefallen wollen“, sagt die Medizinerin. „Dann trifft man sich mindestens ein bis zwei Mal pro Woche im Fitnesscenter.“
Die Mitarbeiterin im Frauengesundheitszentrum Salzburg berichtet von zwei Burschen, die sich selbst als „mollig “bezeichneten. Diese hätten binnen vier Monaten ohne Anleitung und medizinische Begleitung 25 Prozent abgenommen. „Wenn junge Menschen im Wachstum binnen weniger Monate bis zu einem Viertel ihres Körpergewichts verlieren, ist eine stationäre Abklärung unbedingt erforderlich“, sagt Girardi. Die Begleiterkrankungen bei Magersucht reichten von Schlafstörungen, Verlust der Libido und Depression bis zur Schrumpfung des Gehirns. „Der Körper schaltet total auf Sparmodus“, sagt die Schulärztin – und mahnt, dass Jugendliche auch im Alltagsstress auf das Essen achten sollten.