Die Wahl vor einem Jahr war die große Zäsur
Am 15. Oktober 2017 wählte Österreich mehr als einen neuen Nationalrat. Es wählte einen neuen Regierungsstil und neue Themen.
WIEN. Die Migrationskrise 2015 mit den Bildern der ungehindert über die Grenzen strömenden Menschenmassen wird von Historikern einmal als bedeutende Zeitenwende der europäischen Geschichte beschrieben werden. Bis sich solche Zeitenwenden in der Politik niederschlagen, dauert es in der Demokratie naturgemäß bis zum nächsten Wahltag. In Österreich fand dieser Niederschlag mit der Nationalratswahl vor genau einem Jahr – am 15. Oktober 2017 – statt.
Die heimische Politik hat sich seither grundlegend verändert, wobei das Beben des Jahres 2015 bis heute nachwirkt – etwa in den Flügelkämpfen der SPÖ. Mit der Nationalratswahl 2017 verlor die SPÖ den Kanzlersessel und eigentlich auch schon ihren Parteivorsitzenden. Dass es bis zum tatsächlichen Abgang Christian Kerns noch fast ein Jahr dauerte, zeigt die Orientierungslosigkeit der einst bestimmenden Regierungspartei.
Der anderen Regierungspartei, der ÖVP, gelang bei der Wahl 2017 hingegen ein politisches Wunder. An sich wäre die Volkspartei an diesem Wahlabend ebenso „fällig“gewesen, wie es am morgigen Sonntag ihre Schwesterpartei CSU in Bayern ist. Doch dank des medialen Naturereignisses Sebastian Kurz zog die ÖVP den Kopf aus der Schlinge und brachte das Kunststück zuwege, sich nach 31 (!) Jahren ununterbrochenen Regierens als neue, moderne Zukunftskraft zu präsentieren.
Leidtragende dieser schwarzen Selbst-Neuerfindung war nicht nur die SPÖ, sondern auch die FPÖ. An sich hätte deren Chef Heinz-Christian Strache damit rechnen können, dass ihm am 15. Oktober 2017 der Wahlsieg und die Kanzlerwürde in den Schoß fallen. Schließlich hatte die FPÖ in der ersten Runde der Bundespräsidentenwahl 2016, als alle Parteien Kandidaten ins Rennen schickten, die Nase weit vorn gehabt. Doch bei der Nationalratswahl machte ihm Kurz einen Strich durch die Rechnung.
Böse Gefühle blieben zwischen den beiden dadurch offenbar nicht zurück. Denn nach der Wahl stellten Sebastian Kurz und HeinzChristian Strache die Weichen umgehend auf Schwarz-Blau bzw. auf Türkis-Blau, wie es die schwarzen bzw. türkisen PR-Strategen fortan lieber lesen wollten.
Die Neuauflage der ÖVP/FPÖ-Regierung aus dem Jahr 2000 wurde sorgfältig vorbereitet und beide Seiten waren sichtlich bemüht, aus damals begangenen Fehlern zu lernen. Anders als damals nahm man sich für die Formulierung des Koalitionspakts viel Zeit. Anders als damals (als Jörg Haider der Regierung von außen das Leben schwer machte) trat die FPÖ-Spitze nahezu geschlossen in die Regierung ein. Und anders als damals machte die ÖVP dem Koalitionspartner schmerzhaf- te Zugeständnisse. Man denke nur an die gerade jetzt wieder so umstrittene Aufhebung des Rauchverbots in der Gastronomie.
Der Start der neuen Koalition erfolgte in vollkommener Harmonie, die zumindest nach außen bis heute anhält. Streit wird nicht nach außen getragen, Meinungsverschiedenheiten werden intern oder durch Schweigen ausgetragen.
Dieser Verzicht auf Streit ist einer der beiden großen Pluspunkte der neuen Regierung für die Bevölkerung, die 2017 auch den Dauerzank in der Großen Koalition abgewählt hatte.
Der zweite große Pluspunkt der Regierung in den Augen der Bevölkerungsmehrheit ist die neue Linie in der Zuwanderungspolitik. Diese Linie ist von Härte geprägt. Dass Kritiker darin teilweise echte Schikanen erblicken (Stichwort: keine Lehrstellen für Asylbewerber) liegt durchaus im Sinne der Regierung. Sie will alles tun, um Österreich als Zielland für Migranten unattraktiv zu machen. Dieser Kurs wird von einer deutlichen Mehrheit der Wähler unterstützt. Ein Kommentator meinte sogar einmal, noch nie seit der Zeit des Staatsvertrags seien Bevölkerung und Regierung so einigen Sinnes gewesen wie jetzt.
Kein Wunder, dass die Koalition das Feld der Migrationspolitik hingebungsvoll beackert. An vorderster Stelle ist dabei Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) tätig, der dadurch auch die meiste Kritik auf sich zieht. Seine Gegner in Opposition und Medien hielten seine Mi-
nisterschaft schon für einen Skandal, ehe sie begonnen hatte. Seither tat Kickl aber auch wenig, um die Kritik zu entkräften. Im Gegenteil: Mit seiner Amtsführung lotet er Grenzen aus. Einer seiner Vorgänger hat einmal den klugen Satz gesagt: Das Innenministerium sei ein derartig offensives Ressort, dass man es unbedingt defensiv führen müsse. – Von dieser Erkenntnis ist Kickl weit entfernt.
Die zweite heikle Stelle in der Regierung ist die Sozialministerin. Beate Hartinger-Klein erinnert frappant an Elisabeth Sickl, die sichtlich überforderte Kurzzeit-Sozialministerin der ersten schwarzblauen Regierung. Da HartingerKlein im Unterschied zu Sickl aber ausgewiesene Sozialexpertin ist, dürfte ein Grund für ihre holprige Amtsführung auch im Beamtenapparat des Sozialministeriums zu suchen sein, der noch jedem nicht roten Ressortchef das Leben schwer gemacht hat.
Trotz der suboptimalen Vorbereitung der Reformen im Sozialbereich ist der große Aufschrei etwa gegen die Arbeitszeitflexibilisierung oder die Kassenreform ausgeblieben. Zwar bemüht sich die Gewerkschaft redlich, den Widerstand gegen diese Reformen zu bündeln, aber viel zu bündeln ist offenbar nicht vorhanden.
Laut den Umfragen – und andere Messlatten für die Stimmung der Bevölkerung gibt es momentan nicht – sind die Zustimmungswerte für die Koalition überraschend stabil. Großer Profiteur ist wie zumeist in einer Koalition der Erste, also die ÖVP und Sebastian Kurz. Die FPÖ liegt nur leicht unter ihrem vorjährigen Wahlergebnis und ist weit von den Einbrüchen am Wählermarkt entfernt, die sie in der Zeit der ersten schwarz-blauen Koalition hinnehmen musste. Offensichtlich wiegt aus Sicht ihrer Wählerschaft das Thema Migration schwerer als das Soziale.
Erleichtert wird die Arbeit der Koalition durch die blendende Wirtschaftslage. Das für 2019 angestrebte Nulldefizit fällt ihr dank sprudelnder Steuereinnahmen und sinkender Arbeitslosigkeit wie von selbst in den Schoß. Der unangenehmen Aufgabe, langfristig notwendige, jedoch unpopuläre Reformen etwa im Pensionsbereich durchzuführen, fühlt sich die Regierung somit enthoben.
Wie überhaupt auffällt, dass der Regierungsarbeit die große Linie fehlt. Zwar sind die Minister an vielen Fronten eifrig tätig, ein Gesamtbild – eine Art Vision, wo das Land hinsoll – ist aus den vielen kleinen Mosaiksteinen aber bislang noch nicht entstanden.
Außer von der brummenden Wirtschaft profitierte die Regierung in ihrem ersten Jahr noch von einem zweiten Glücksfall – der Schwäche der Opposition. Die SPÖ ist seit der Wahl mit sich selbst beschäftigt. Die Grünen flogen aus dem Parlament. Die Liste Pilz wirkt seit den Sexvorwürfen gegen ihren Listengründer wie gelähmt. Und die Neos befinden sich seit dem Abgang ihres Gründers Matthias Strolz in einer Selbstfindungsphase. – So viel Glück muss man als Regierung erst einmal haben.
Sichtlich fühlen sich ÖVP und FPÖ als Herren im Hause Österreich, die auf niemand anderen Rücksicht nehmen müssen. Das kann Reformbremsen lösen, aber auch überheblich machen.