Zwei Autokraten, viele Interessen
Was steckt hinter dem Fall Khashoggi? Die Türkei streut Informationen über ein Mordkomplott der Saudis, aber einem offenen Schlagabtausch geht sie vorerst aus dem Weg.
Vieles spricht für die türkische Version der Ereignisse. Wofür flöge Riad sonst Agenten für eine Stunde nach Istanbul, wenn nicht für eine dubiose Geheimmission? Jamal Khashoggi, der Kronprinz Muhammad Bin Salman zuletzt immer schärfer für seine Politik kritisierte hatte, fürchtete schon lang die Rache des starken Mannes im Saudi-Reich. Aus Angst um seine Sicherheit zog der ehemalige Berater der saudischen Botschaft in Washington und enge Vertraute der Königsfamilie 2017 in die USA. US-Geheimdienste sollen erfahren haben, dass saudische Sicherheitsdienste unlängst darüber beraten hätten, wie sie Khashoggi aus den USA in seine Heimat verschleppen könnten. Es wäre nicht das erste Mal, dass saudische Geheimdienste widerspenstige Staatsbürger aus dem Ausland entführen.
Weshalb zögert der türkische Präsident Recep Erdoğan dann, Salman mit den Beweisen für die mutmaßliche Ermordung Khashoggis in Istanbul direkt zu konfrontieren? Schließlich kriselt es seit Jahren zwischen beiden Herrschern: Erdoğan unterstützt Ableger der Muslimbruderschaft in ganz Nahost. Salman betrachtet die Islamisten als Gefahr für sein Regime samt Verbündeten. Nachdem Salman Katar voriges Jahr mit einer Blockade belegt hatte, um sich dessen Emir gefügig zu machen, eröffnete Erdoğan dort einen Militärstützpunkt und richtete eine Luftbrücke zur Versorgung des Emirats ein.
Der Fall Khashoggi könnte diese Spannungen weiter eskalieren lassen. Das Mordkomplott ist eine völkerrechtswidrige Verletzung türkischer Souveränität – und ein erheblicher Prestigeverlust für ein Land, das sich als sicherer Hafen für islamische Dissidenten der arabischen Welt versteht. Vor diesem Hintergrund ist es also kaum verwunderlich, dass türkische Geheimdienste Informationen über den Zwischenfall streuen. Es ist ein relativ gefahrenfreier Weg, Salman zu desavouieren und zu schwächen.
Einen offenen Schlagabtausch wollen beide Seiten vorerst nicht. Die Türkei steckt in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Das Land will es sich jetzt nicht mit den reichen Golfstaaten verscherzen. Das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten soll acht Milliarden US-Dollar betragen, reiche Golf-Bürger sind wichtige Kunden der türkischen Tourismusindustrie.
Auch Salman hat kein Interesse an einem Eklat. Seit seiner Amtsübernahme bemüht sich der Kronprinz um das Image eines Reformers. Er will internationale Investoren ins Land locken, um die Wirtschaft, derzeit noch völlig vom Öl abhängig, zu diversifizieren. Doch seine als „impulsiv“bezeichnete Außen- und Innenpolitik, mit einem schlimmen Krieg im Jemen sowie der Verhaftung einflussreicher Geschäftsleute, schreckt immer mehr Investoren ab.
Riad und Ankara verkündeten jetzt die Einrichtung einer gemeinsamen Untersuchungskommission, die die Vorgänge in Istanbul „aufklären“soll. Mit Wahrheitsfindung dürfte das wenig zu tun haben. Wahrscheinlicher ist, dass sie eine Version des Tathergangs fabrizieren soll, die es Erdoğan und Salman ermöglicht, gleichzeitig Gesicht und Interessen zu wahren.