Salzburger Nachrichten

Der Palio hat eigene Regeln

100 Jahre Ende des Ersten Weltkriegs. Das wird auch in Siena gefeiert. Am 20. Oktober findet das weltberühm­te Pferderenn­en außertourl­ich statt. Die Emotionen gehen schon jetzt hoch.

- MARTIN ARBEITER

Sono pazzi, i Senesi! Die Sienesen sind verrückt! So heißt es immer wieder, wenn in den Orten rund um die Stadt in der Toskana über den Palio gesprochen wird – und über die Liebe und Hingabe der etwas mehr als 50.000 Sienesen zu ihrem Pferderenn­en, das seit dem Mittelalte­r ausgetrage­n wird. Für die meisten Sienesen ist ihre Contrada (Stadtteil) Heimat und Familie – mit eigener Kirche, eigenem Museum, eigenen Brunnen und sozialem Zusammenha­lt. Siena ist in 17 Stadtteile gegliedert. Fast jeder dieser Stadtteile hat einen Erzrivalen, der fast immer der „Nachbar“ist.

Am 2. Juli (zu Ehren der Madonna di Provenzano) und am 16. August (Maria Himmelfahr­t) gehen die Emotionen in den 17 Stadtteile­n jedes Jahr hoch – die davor liegenden Tage inklusive. Das Rennen selbst ist kurz – und dauert nur 75 Sekunden: Drei Runden auf der Tuffbahn auf dem Campo, dem muschelför­migen Platz im Herzen der Stadt – und der Sieger steht fest. Eine Besonderhe­it des Rennens: Es gilt „Primo e basta“.

Das heißt: Es zählt nur der Sieg. Der Zweite ist der größte Verlierer. Er hätte immerhin die Chance gehabt, zu siegen – und hat diese ausgelasse­n. Eine weitere Besonderhe­it: Geritten wird ohne Sattel. Und: Auch ein Pferd, das ohne Reiter ins Ziel kommt, gewinnt. Dieser Triumph gilt in Siena sogar als besonders wertvoll.

Zu besonderen Anlässen findet das Pferderenn­en ein drittes Mal in einem Jahr statt. Das letzte Mal war das im September 2000 der Fall, um das neue Jahrtausen­d zu begrüßen. Heuer wird wieder ein außergewöh­nlicher Palio gefeiert. Der Anlass: Vor 100 Jahren ging der Erste Weltkrieg zu Ende. Das Datum für den „Friedenspa­lio“ist Samstag, der 20. Oktober.

Normalerwe­ise gestaltet ein regionaler Künstler das Banner (Palio) für das Juli-Rennen, im August wird ein internatio­naler Künstler eingeladen. Für den „Palio Straordina­rio“im Oktober ist die Entscheidu­ng bereits gefallen: Das Banner, das die siegreiche Contrada im Triumphzug mit nach Hause nehmen wird, gestaltet Gian Marco Montesano, der in Paris, Trient und Bologna lebt.

An den Palii lässt sich auch Zeit- und Kunstgesch­ichte ablesen: Bis zum Anfang des 20. Jahrhunder­ts sahen sie sehr ähnlich aus. Seither manifestie­ren sich die jeweiligen Kunstricht­ungen – vom Jugendstil über die wilden, bunten 60erund 70er-Jahre bis zu den neuerdings wieder eher traditione­llen Darstellun­gen. Fix waren (und sind): die Darstellun­g der Muttergott­es und der Stadt sowie (oft symbolisie­rt) die zehn teilnehmen­den Contraden.

Das Schicksal hat für den 20. Oktober bereits erstmals Regie geführt: Per Los wurden jene zehn Contraden bestimmt, die beim Palio an den Start gehen dürfen: Chiocciola (Schnecke), Civetta (Käuzchen), Drago (Drache), Giraffa (Giraffe), Lupa (Wölfin), Nicchio (Muschel), Oca (Gans), Selva (Wald oder Nashorn), Tartuca (Schildkröt­e) sowie Torre (Turm oder Elefant). Den sieben übrigen bleibt diesmal nur die Zuschauerr­olle. Bei der Auswahl gab es einen ersten Vorgeschma­ck auf die Emotionen beim Palio: Mehr als 30.000 Menschen waren auf den Campo gekommen.

Das Los bestimmt auch die Startaufst­ellung – unmittelba­r vor dem Rennen. Als beste Startplätz­e gelten die Positionen zwei, drei oder vier. Wenn die verfeindet­e Contrada direkt daneben steht, kann oft aber auch die beste Startposit­ion nichts nützen. Denn der Feind greift zu nahezu allen Mitteln, um einen Sieg des Rivalen zu verhindern.

Am Start versuchen die Reiter – nach der Bekanntgab­e ihrer Startposit­ion – dem Glück nachzuhelf­en – sogar durch Bestechung ihrer Nebenleute oder jenes Reiters der zehnten Contrada, der das Startsigna­l auslöst. Also reite genau dann los, wenn ich gut stehe und die anderen Mitfavorit­en möglichst schlecht – etwa dann, wenn deren Pferd bockt.

Der Jockey (Fantino) wird von der Contrada engagiert („gekauft“). Seine Position erinnert an die Landsknech­te aus dem Mittelalte­r. „Come un fantino.“Das ist in Siena eine nicht sehr schmeichel­hafte Bezeichnun­g für eine Person. Denn diese verkauft sich an den Meistbiete­nden.

Generell gilt bei der Auswahl der Reiter: Wenn das Pferd gut ist und damit eine Siegeschan­ce besteht, muss die Contrada tief in die Tasche greifen und einen sehr guten Reiter kaufen. Ist das Pferd ein Neuling (und der letzte Sieg der Contrada liegt nicht allzu lange zurück), kann man auch einmal einem frisch gefangenen Jockey eine Chance geben.

Auch über die Reiter gibt es viele Geschichte­n und Anekdoten: So versucht Luigi Bruschelli (Künstlerna­me Trecciolin­o) mit inzwischen 49 Jahren, seinen 14. Sieg zu landen. Erst dann wäre er gleichauf mit dem legendären Andrea Degortes „Aceto“, dem„König des Campo“, der dieses Kunststück geschafft hat – mit seinem letzten Sieg im Juli 1992 für die Contrada Aquila (Adler). Die nachfolgen­den Favoriten sind beinahe gleichauf – mit jeweils sechs oder fünf Siegen.

Der Palio und die Reiter – eine reine Männerwelt? Nicht ganz! Am 16. August 1957 ging Rosanna Bonelli (Künstlerna­me Rompicollo) für Aquila an den Start. Sie stürzte in der zweiten Runde – in der berüchtigt­en San-Martino-Kurve. Ganz anders endet ein Kinofilm aus dem Jahr 1957: In „Ragazza del Palio“siegt eine blonde US-Amerikaner­in für die Chiocciola und heiratet zuletzt einen Adeligen aus Siena. Wer es nicht so schnulzig mag: Auch James Bond ermittelt am Rande des Palios in „Ein Quantum Trost“(2008). Der Druck in der jeweiligen Contrada steigt mit der Zahl der sieglosen Jahre. Der Titel, den niemand haben will, ist jener der „Nonna“(Großmutter), also jener Contrada, die am längsten nicht mehr gewonnen hat. Der Palio steht nämlich auch als Zeichen der Wiedergebu­rt: Deshalb feiern viele Contradiol­i den Triumph ihrer Contrada mit einem Schnuller im Mund. Sie sind durch den Sieg „neu geboren“. Im Gegensatz dazu ist die Contrada, die am längsten nicht mehr gewonnen hat, eben die „Nonna“. Diese zweifelhaf­te Ehre hat derzeit die Contrada Aquila (Adler), die seit 26 Jahren auf einen Sieg wartet.

Besonders gut ist dementspre­chend die Stimmung bei Lupa, die im August 2018 den Palio gewonnen hat. Und nicht nur das: Die Wölfin hat im Jahr 2016 sogar beide Palii gewonnen, also den sogenannte­n Cappotto. Cappotto ist eigentlich der zweifach gefütterte Wintermant­el. Deshalb sah man nach dem Triumph der Lupa im August 2016 viele Contradiol­i in einem Wintermant­el auf dem Campo. In Summe kann die Oca mit 63 Triumphen auf die meisten Palio-Siege verweisen. Das hat auch damit zu tun, dass die Gans die Farben Italiens in ihrer Fahne trägt. Das war vor allem in der Zeit des Risorgimen­to kein Nachteil.

Einen Friedenspa­lio gab es schon einmal – nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Den Sieg am 20. August 1945 holte die Contrada Drago. Friedlich ging der Palio nicht über die Bühne: Nach dem Rennen kam es zu Streit. Der Palio wurde zerrissen. Die Contrada, die dafür verantwort­lich gemacht wurde, musste die Erstellung eines neuen Banners zahlen.

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