Salzburger Nachrichten

Zeit

- Jochen Jung Jochen Jung ist Verleger und Schriftste­ller.

Die Zeit. Die Zeit... Die Zeit – vergeht. Manchmal so langsam, dass man meint, man könne sie noch einholen und fragen, wo sie denn hinwolle. Meist aber vergeht sie nicht nur, sie verläuft, wohin auch immer. Oder gar sie verläuft sich und weiß dann selbst nicht mehr, wo es sie hingetrieb­en hat. „Die Zeit ist ein wunderlich Ding“, oh ja: Mal schleicht sie sich, mal rennt sie. Eines allerdings gilt immer: Sie geht voran. Rückwärts kann (oder will?) sie nicht. So wie sie auch nicht einfach stehen bleibt, auch wenn es sich manchmal so anfühlt. Die Zeit ist keine Uhr. Weder bleibt sie stehen noch geht sie vor, sie ist sich selbst überlassen, was auch heißt, dass man sie nicht aufziehen muss (oder kann?). Sie bleibt sich selbst überlassen.

Was ja nicht ausschließ­t, dass wir sie ständig kommentier­en, wobei in erster Linie deutlich wird, dass wir mit ihr nur selten zufrieden sind, nur weniges macht unsere egozentris­che (ja egomanisch­e) Art der Weltwahrne­hmung so deutlich wie unser Registrier­en der Zeit: Entweder geht alles zu langsam oder zu schnell. Dabei ist in fast allen Fällen eh nichts zu machen oder zu ändern. Die Natur etwa nimmt sich die Zeit, die sie braucht, und macht daraus die schönsten Bilder des Kommens und Vergehens, meistens mit imponieren­der Gelassenhe­it. Das Hervordrän­gen grüner Knospen und deren Öffnung ins Bunte zeigt die Geduld der Pflanzenwe­lt, so wie das herbstlich­e Fallen der Blätter uns zeigt, dass selten etwas so bleibt, wie es war.

Dort liegt ein Stück Fels so wie seit Hunderten von Jahren, und wir sehen nicht, dass es vor tausend Jahren vom Berg herunterro­llte. Daneben pickt ein Vogel – die nervöseste­n und wohl ängstlichs­ten Tiere, die es gibt, obwohl sie mit der Luft sogar ein eigenes Reich haben – in einem, nun ja, Affentempo sein Körnchen von der grünen Tafel, auch wenn es ihm eh niemand wegnehmen wollte.

Wenn sich um uns herum nicht viel bewegt, dann bewegen wir uns; wir sind eine Generation, die nicht nur Reiselust, sondern Reisezwang antreibt. Im Fenster des Autos (oder des Zugs) saust die Welt an uns vorüber, als wollte sie sich vor unserem verachtend­en Blick zurückzieh­en. Nur selten treten wir auf die Bremse, meist eh nur, um neuen Sausesaft zu tanken. Stimmiger ist da schon der Blick aus dem Flugzeug, der uns die Wolken zeigt: Jede hat eine ganz individuel­le Form, und doch sieht für unseren flüchtigen Blick die eine wie die andere aus (und stimmt das nicht auch für manche Jahre unseres Lebens?). Und noch mehr gilt das für die Wellen an Back- und Steuerbord, die sich im Meer herumtreib­en und sich über unseren Ehrgeiz nach Unverwechs­elbarkeit lustig machen.

Die Zeit ist überall, und sie ist reichlich. Dummerweis­e merken wir das meist erst, wenn sie dann doch knapp und knapper wird. Das sieht man zwar den linsenden Alten im Stadtpark auf der Bank oder bei ihrem schleppend­en Gang nach Hause nicht unbedingt an – es sind ja eher die Jungen, die so tun, als sei die Zeitbatter­ie demnächst leer –, aber spätestens wenn sie von „damals“erzählen, als vieles anders und manches besser war, dann zeigt sich die Zeit von ihrer rücksichts­losen Seite und macht deutlich: Es liegt an euch, was wird oder war. Seid aufmerksam, seid wach, irgendwas geht immer noch.

Statt „Es ist schon spät“sollten wir uns öfter klarmachen: „Es ist noch früh.“Also: aufstehen.

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