Es lebe die Nostalgie
Am Lago d’Iseo. Früher war alles besser oder auch nicht. Eine Zeitreise an den norditalienischen See.
Das Leben ist heiter und unbeschwert, das Glas Wein und die Pasta munden, der See liegt da wie eine glasklare Verführung und kein Wölkchen trübt den Himmel. Und wenn doch eines droht, dann wird es von den musikalischen Einwohnern tapfer besungen, so dass die Wolke bald wieder azurblauem Himmel Platz macht.
So sah man Italien in den 1960er-Jahren: mit rotem Fiat 500 und flotter Vespa, engen Gassen und gestikulierenden Menschen, angeregtem Geplauder an der Bar und einem Capitano in Schneeweiß auf dem Boot. Zumindest in nostalgischen Rückblicken wird das Land, wo die Zitronen blühen, immer wieder erzählt oder beschrieben.
Doch manchmal ist es auch heute noch genau so. Am Lago d’Iseo nämlich, einem dieser zahlreichen oberitalienischen Seen, die zwischen den großen Brüdern, dem Lago Maggiore und dem Lago di Garda, von den großen Gästeströmen schier unbemerkt ihr Dasein fristen. Zumindest war das so bis zum 18. Juni 2016. Dann kamen die Verhüllungskünstler Christo und JeanneClaude, die orangefarbigen Floating Piers und 1,3 Millionen Besucher. Alles am Iseosee brach zusammen, Busse, Bahnen und der Verkehr rund um die Parkplätze sogar schon am ersten Tag. Es war ein Disastro, wie die Italiener gerne sagen. Diejenigen, die es dann aber tatsächlich auf die Floating Piers schafften, waren allerdings begeistert. Diese Installation machte es möglich, vom Dörfchen Sulzano aus eine Insel in der Höhe von Peschiera Maraglio zu Fuß zu erreichen – über 16 Meter breite Stege, die auf dem Wasser schwammen. Zahlreiche große Bilder erinnern bis heute an das Iseo-Event des Jahrhunderts, das genau 16 Tage dauerte. Gut zwei Jahre später ist der Alltag längst wieder eingekehrt, die Stege sind abgebaut und recycelt. Glücklicherweise! Im Wasser spiegelt sich jedoch wie eh und je der Monte Isola, ein Bergriese von 450 Metern Höhe mitten im 20 Kilometer langen See. Auf dieser Insel wachsen Kirsch- und Kastanienbäume, leben 1700 Menschen in elf Dörfchen. Der Monte Isola ist der wahre Star am Lago, mit oder ohne Steg. Christo war nur ein ephemeres Intermezzo.
Nach heutigen Maßstäben ist Monte Isola Bella ein Stein gewordenes Klischee, eine Postkarte aus den 1960er-Jahren, als die fast abgöttische Italien-Sehnsucht ihren Höhepunkt erreichte. Ein mondäner Lebensgenuss, üppig wie Zuckerguss und Schlagobers, temperamentvoll und unbekümmert wie „La Dolce Vita“, Federico Fellinis Meisterstück.
Von dieser verheißungsvollen Mischung zehrt der Lago d’Iseo noch heute. Zum Stil der 60er-Jahre gehören natürlich auch die Riva-Boote, bei denen man das edle Mahagoni noch riechen kann. Nur noch ein paar wenige sind im Einsatz. Und wenn sie vorübergleiten, hört man „Ahhhs“und „Ohhhs“. Sie sind keine Gadgets für spaßgetriebene Neureiche, sondern verströmen eine Eleganz und innere Gesetztheit, wie es sie sonst kaum mehr gibt.
Auch das namensgebende Hauptstädtchen Iseo am Ufer gibt sich elegant und sogar ein bisschen arrogant. Vielleicht eben genau wegen dieses nostalgischen Flairs, morbide, in die Jahre gekommen, aber authentisch. Der Charme ist jedenfalls geblieben, ein Zauber, den vergleichbare jüngere touristische Destinationen wohl niemals haben können. Die Historie, das Gewachsene macht den Unterschied aus. Iseo gab es schon im Mittelalter. Und das Castello Oldofredi aus dem 11. Jahrhundert zeigte schon damals Größe, Macht und Reichtum. Die Karawane der Reichen und Mächtigen ist zwar längst abgezogen, geblieben sind aber die herrlichen Palazzi, die lauschigen Villen mit Gärten und palmengesäumten Auffahrten sowie der Hafen.
Und dann das: Wolken. Einfach so. Auf einmal. Es tröpfelt sogar. Und kein Belcanto-Tenor weit und breit, der die Wolken wegsingen könnte. Es wird dunkel, fast schwarz, ein beinahe bedrohliches und beklemmendes Szenario, das selbst den eingefleischtesten Freiluftfan ins Museum zwingt. Und das ist gut so: In der Galleria dell’Accademia Tadini in Lovere hängt große Kunst an den Wänden, vom 14. Jahrhundert bis heute – eine Zeitreise vom Mittelalter in die Moderne.
Am nächsten Tag lacht und strahlt die Morgensonne wieder, der Himmel ist azzurro, wie es blauer nicht geht, und die Straße ruft: schlank, mit schnittigen Kurven, ein wahrer Traum für alle Motorrad- und Cabriofahrer – die Westküstenstraße führt fast die ganze Zeit direkt am See entlang. Unterwegs einen großen Teller Pasta essen, Sonne tanken, sich Italien einverleiben, die gute alte Kino-Zeit lebendig werden lassen. Einfach herrlich.