Die Nacht, als ich ein Nazi war
Durch die Altstadt zieht ein Nazi-Mob, grölt „Heil Hitler“und ich marschiere mittendrin.
Ein Mob zieht durch die enge Gasse. Marschschritt. Stampfen. Grölen hallt zwischen den Häusern. Ein Passant, ein älterer Mann, sagt: „Seid’s auch schon da?“Vor dem Mann stehen ein paar Buben, strenge Scheitel, Lederhose, weißes Hemd. Hitlerjugend. Daneben stehen zwei Jugendliche in SA-Uniformen und ein paar ältere Männer in schleißigen Anzügen und um den Arm eine Hakenkreuzbinde. Seid’s auch da?! Mitten in der Altstadt von Salzburg. Mitten in Österreich. Mitten unter uns. „Ein Film, nur ein Film“, sagt einer der Buben hastig. Der Mann geht weiter. Von einem Haus hängt eine Hakenkreuzflagge. An den brüchigen Hauswänden hängen Plakate, von denen Hitler eindringlich herunterschaut. Daneben steht: „Das ganze Volk sagt Ja am 10. April“.
Ein Tourist aus Italien bleibt stehen, greift nach seiner Kamera, knipst die Plakate. Er sieht die Burschen in den Uniformen. Er möchte ein Bild machen mit den SAlern und seinen Kindern. Er wundert sich, dass er der Einzige ist, der das will. Lästig drängt er. „Wir drehen da einen Film“, weist ihn Regisseur Markus Weisheitinger-Herrmann zurecht.
Nur. Ein. Film. Ich bin dabei als Statist. „1938 – Hitlerjugend und Bücherverbrennung“heißt der Film. Ein Bildungsfilm für Schulen, gedreht von FS1, dem Freien Fernsehen Salzburg, gefördert von öffentlichen Stellen. Keine Propaganda. Fakten. Die Fakten – untermauert auch von Zeitzeugenberichten – werden durch ein verfilmtes Einzelschicksal anschaulich gemacht. Freilich fehlt das Geld, um eine solche Produktion mit Profischauspielern zu besetzen.
Deshalb schlüpfe ich als Komparse in den alten, viel zu weiten Anzug. Ich setze den Hut auf. Dann kommt Judith von der Maske und legt mir eine Hakenkreuzbinde um den Arm. Gibt es andere Symbole, die nur annährend solchen Ekel erregen? Die mehr für den Untergang zivilisatorischer Ideen stehen? Gibt es ein anderes Symbol, gegen das ich mehr argumentiert hätte in meinem Leben?
„Die Binde rutscht ein bisserl“, sage ich. Judith fingert eine Sicherheitsnadel aus der Hosentasche. Die dünne Nadel ist schwer durch den dicken, samtenen Stoff zu bekommen. Judith kämpft mit der Binde. Sie durchsticht sie. Die Binde rutscht nicht mehr. Aber die Bilder im Kopf fangen zu rutschen an.
Was mache ich da? Spielend stampfen? Spielend ekelhafte Parolen grölen? Erwin war schon öfter Statist. Jetzt sagt er: „Das ist schon unheimlicher als bei anderen Produktionen.“Und einer der Burschen in den SA-Uniformen sagt: „Ich hab das Gefühl, dass sich mein Gang in dem Gewand verändert.“„Eigenartig und auch beängstigend, wie diese Rituale wirken“, sagt Robert Luckmann. Er ist auch Komparse. Und er ist der Leiter jener Stabsstelle beim Land, die noch bis Jahresende für die Produktion solcher Bildungsmedien zuständig ist. Unter anderem entstanden Filme wie „Das ,Zigeunerlager Maxglan‘ – Verfolgung von Sinti und Roma in Österreich von 1938 bis 1945“, „1947: Der jüdische Exodus über die Krimmler Tauern“und „1816. Salzburgs Weg ins Habsburgerreich“. „Wie schnell einem – obwohl man nur als Komparse spielt – die Kraft solcher Rituale bewusst wird, das schreckt mich schon“, sagt Luckmann nach der Szene, in der die Salzburger Bücherverbrennung, mit einer in Thalgau die einzige, die es in Österreich gab, nachgestellt wird. „Man merkt, wie sehr wir gefordert sind, solche Dinge dauernd zu reflektieren.“Bei allem Reflektieren bleibt ein mulmiges Gefühl, wie die Hakenkreuzbinde jetzt fest am Oberarm sitzt und wie wir der Mob sein sollen, der durch die Steingasse zieht, hinter den zwei jungen Burschen, die eigentlich ins Musische Gymnasium gehen, im Chor singen und jetzt SAMänner spielen mit Fackeln in der Hand. „Ihr müsst was schreien“, sagt der Regisseur. Was schreit man, wenn man als Schauspiel-Laie imaginär auf die Salzburger Synagoge zumarschiert, die es eben wegen dieser nachgespielten Szene gar nicht mehr gibt? Wie geht das, wenn man etwas spielt, von dem man ideologisch Lichtjahre entfernt ist? Aggressiv sollen wir sein, sagt der Regisseur, so wie das damals war, sagt er. Wutentbrannt. Zu allem bereit? Wie es damals war, kann kaum noch wer authentisch vermitteln, denn die, die dabei waren oder zugesehen haben, sind fast alle tot. „Ich versuche immer, für diese Filme eine Geschichte zu finden, die emotional und berührend ist“, sagt Weisheitinger-Herrmann. „Wenn du einem Schüler sagst, dass es da ein paar Millionen Tote gab, ist das einfach nur eine Zahl, abstrakt.“Weisheitinger-Herrmann hat also ein Drehbuch entworfen, in dem „eine erzählte Geschichte Nähe schafft und damit die Daten und Fakten leichter verständlich macht“. Eine jüdische Familie und deren Sohn Konrad stehen dabei sinnbildlich für die Zerrissenheit, Schuld und das Schicksal der österreichischen Gesellschaft zur Zeit des Nationalsozialismus. „Jude“steht mit Kreide an die Tür geschrieben, hinter der die Familie im Film wohnt und an der wir als Mob jetzt vorbeimarschieren. Zuerst, um Kamera und Licht einzurichten, noch stumm. Dann müssen wir schreien. Aber was? „Ein Volk, ein Reich, ein Führer?“„Jude verrecke?“„Saujud?“Genau das werde ich dann schreien. Und während ich schreie, marschiert ein eigenartiges Gefühl mit. Ich beginne mich zu fürchten. Vor der Szene. Vor mir selber. Vor der Leichtigkeit, mit der Geschichte gespielt werden kann. Dass ich es wirklich schaffe, das zu schreien?! Dass es jemand hören könnte?! Dass es jemandem gefallen könnte?! Dass es genug gibt, die noch immer und wieder schreien, obwohl sie keine Komparsen sind?!
Wir stehen danach weit von den Kameras und Scheinwerfern entfernt ums Eck, nicht erkennbar als Komparsen oder Filmcrew, nur ein paar Männer und Burschen, die in der Salzburger Steingasse herumstehen. „Seid’s ihr komplett narrisch, was habt’s ihr denn da an?!“, sagt ein Frau im Vorbeigehen. Sie schiebt einen Kinderwagen. Ihre Stimme klingt empört und erschüttert. Sie schüttelt den Kopf. „Nur ein Film. Ein Film. Wir drehen einen Film“, sagen wir hastig und fast alle gleichzeitig. „Na, Gott sei Dank“, sagt die Frau. Dann drehen wir wieder. Wir schreien. Wir marschieren. Die Fackeln werfen unheimliche Schatten in der Gasse. Fürchterlich erhebend sieht das aus. Wie bei der Sonnwendfeier im Alpenverein. Wie bei der Messe in der Osternacht. Wir drehen. Wir marschieren. Wir schreien. Und es dreht sich der Magen um. „Scary“, sagt eine junge Amerikanerin, die auf ihrem Spaziergang durch die Gasse warten muss, bis wir fertig sind, bis die Gasse wieder frei ist und die Kostüme wieder verschwinden. Die Gedanken sind nicht so leicht abzustreifen.