Noch ist alles blau
Die E-Wirtschaft greift nach den Flüssen des Balkans.
Der Balkan gilt als das blaue Herz Europas: Viele Flüsse sind im Gegensatz zu Mitteleuropa unverstaut und unreguliert – noch. Denn bis zu 3000 Wasserkraftwerke sind am Balkan geplant oder bereits in Bau, wie Naturschutzorganisationen betonen. Um auf die Bedrohung dieser letzten Paradiese aufmerksam zu machen, haben sich rund 250 Forscher und Aktivisten in Sarajevo zu einem „River Summit“getroffen. „Wir geben nicht auf. Wir stehen Schulter an Schulter“, betont Maida Bilal, eine der Frauen aus dem bosnischen Dorf Kruščica. Seit mehr als einem Jahr blockieren die Frauen eine Zugangsbrücke, um den Bau eines Kleinwasserkraftwerks zu verhindern. Entgegen der gesetzlichen Verpflichtung soll es bei der Entscheidung für das Kraftwerk keine Bürgerbeteiligung gegeben haben. Die Baugenehmigung, die unter dubiosen Umständen zustande kam, wurde von einem Gericht aufgehoben, doch der Investor will dennoch mit dem Bau beginnen. Das Kraftwerk ist als Ableitungsprojekt geplant, mit einem kleinen Damm, von dem das Wasser über Rohre abgeleitet wird. Das birgt die Gefahr, dass das Gewässer unterhalb des Dammes austrocknet. Die Frauen von Kruščica fürchten auch eine Gefährdung der Trinkwasserversorgung. Beim „River Summit“schilderten sie ihre Erfahrungen unter viel Applaus.
Der Strom aus Wasserkraftwerken gilt als sauber und grün. Viele Projekte werden aufgrund der Vorgaben im Klimaschutz forciert. Aber nicht nur: Die Stromversorgung am Balkan ist nicht die beste und soll auch mit Unterstützung der Europäischen Union verbessert und ausgebaut werden.
Andererseits wissen Staaten wie Österreich, die in den 1970er-Jahren die Verstauung und Regulierung der Flüsse vorangetrieben haben, wie fatal sich Wasserkraftwerke auf das Ökosystem Fluss auswirken: Aus einem mäandernden, dynamischen Fluss mit dichtem Auwald an den Ufern wird ein monotoner Flusskanal. Schotterflächen für Brutvögel gehen verloren, Fischarten können nicht mehr wandern. Das Geschiebe von Schotter und Sedimenten wird blockiert, was wiederum zu Sohleeintiefung und auch zu Küstenerosionen am Meer führt. „Im Hinblick auf die Artenvielfalt ist das Ökosystem Fluss noch mehr gefährdet als die Weltmeere“, sagt Cornelia Wieser von der NGO RiverWatch. Soeben hat die Technische Universität München eine Studie zu den Fischbeständen in Donau, Elbe und Main veröffentlicht. Verglichen wurden Daten über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren. Ergebnis: Heimische Arten wie die Äsche oder Hasel stehen vor dem Verschwinden. Als Gründe werden Verschlammung, höhere Wassertemperaturen und Staudämme genannt. Noch ist die Lage am Balkan anders. In den Flüssen zwischen Slowenien und Griechenland leben laut einer Studie der Universität Graz 113 bedrohte und geschützte Fischarten und damit mehr als in jedem anderen Gebiet Europas. Drei Flüsse sind von besonderer Bedeutung: die Neretva und die Drina in Bosnien-Herzegowina sowie die Morača in Montenegro, wo mehr als 50 gefährdete Arten leben. Diese Flüsse zählen zu den an Fischarten reichsten Flüssen in ganz Europa. Doch ausgerechnet hier sollen mit Hilfe der EU Staudämme entstehen. Betroffen ist auch die Vjosa in Albanien, sie ist mehr als 270 Kilometer lang und einer der letzten Wildflüsse Europas. Entlang des albanischen Abschnitts des Flusses will das Energieministerium acht Dämme errichten lassen. Im oberen griechischen Abschnitt plant Athen ein weiteres Staudammprojekt, um etwa 70 Millionen Kubikmeter Wasser pro Jahr zu Bewässerungszwecken abzuleiten. Nataša Crnković, Präsidentin des Center for Environment in BosnienHerzegowina, setzt auf Solarenergie. „Wasserkraft ist zerstörerisch“, meint sie. Der Balkan sei eine sehr sonnige Gegend und bei der Solar-Technologie habe es in den vergangenen Jahren viele Fortschritte gegeben, sagt auch Cornelia Wieser. Die Gipfel-Teilnehmer in Sarajevo haben einen Forderungskatalog erstellt, der sich an die EU-Kommission, die Energieindustrie, Banken und Regierungen richtet. Auf die Finanzierung von Wasserkraftprojekten müsse verzichtet werden, heißt es. Die EU-Richtlinie zum Schutz der Gewässer müsse endlich berücksichtigt werden. Die meisten Staaten am Balkan stehen in Beitrittsverhandlungen mit der EU. Jedenfalls wollen die Aktivisten nicht lockerlassen: Der nächste Fluss-Gipfel wird 2020 in Portugal stattfinden.
Wir stehen Schulter an Schulter, um unseren Fluss zu schützen. Maida Bilal Aktivistin