MOUHANAD KHORCHIDE
Diese Verse stammen aus der mekkanischen Phase, in der der Koran immer wieder die Allmacht Gottes als Schöpfer des Menschen betonte. Daher werden die Entstehungsphasen des Embryos ausführlich beschrieben. Die traditionelle Exegese hat sich dabei auf unterschiedliche Aspekte konzentriert. Im Mittelpunkt stand die Frage nach der endgültigen Menschwerdung des Embryos. Einen Anhaltspunkt sahen die Exegeten in Sure 23 Vers 14: „… dann entwickelten wir es zu einer anderen Schöpfung.“Dies wurde als Übergang zum Menschen interpretiert, dem nun in einem letzten Schritt Gottes Geist eingehaucht wird. Erst durch dieses Einhauchen, das an anderer Stelle im Koran erwähnt wird, soll der Mensch endgültig zum Menschen geworden sein. Einige Gelehrte meinten, dies geschehe 40 Tage nach der Befruchtung, andere sprechen von 120 Tagen. Beide Parteien berufen sich zudem auf unterschiedliche Aussagen des Propheten Muhammad, deren Authentizität jedoch umstritten ist.
Im 20. Jahrhundert etablierte sich die „wissenschaftliche Exegese“. Diese versucht, in einer gewissen Apologetik zu zeigen, dass im Koran naturwissenschaftliche Phänomene beschrieben werden, die erst die moderne Wissenschaft bestätigen konnte. Darin sehen einige ein Beglaubigungswunder für den Koran, denn wenn dieser Detailerkenntnisse beinhalte, zu denen die Menschen im 7. Jahrhundert keinen Zugang haben konnten, dann müsse dieses Buch einen göttlichen Ursprung haben. Allerdings brachte diese Art der Exegese manche Exegeten in Verlegenheit, da sie ihre Auslegungen den Entwicklungen der Naturwissenschaften immer wieder anpassen mussten. Nicht selten kamen sie dadurch zu widersprüchlichen Aussagen, die sie aus dem Koran abgeleitet haben wollen. Man denke an lange Diskussionen darüber, ob die Erde rund oder flach sei. Was die in den oben zitierten Versen dargestellten Entwicklungsphasen des Embryos betrifft, so zeigt eine historisch-kritische Betrachtung, dass diese im 7. Jahrhundert keineswegs etwas Neues war. Vielmehr wurde sie bereits von dem griechischem Arzt Galen im 2. Jahrhundert in ähnlicher Abfolge beschrieben. Der Koran baut hier also auf dem Vorwissen der Gemeinde auf, um die Schöpferkraft Gottes zu betonen. Hatte die wissenschaftliche Exegese im 20. Jahrhundert ihre Blütezeit, wird sie heute stark kritisiert, weil ihre Erkenntnisse sehr vage und zum großen Teil apologetischer Natur sind.
Viele heutige Exegeten sehen in solchen koranischen Versen, die Naturphänomene ansprechen, eine Einladung, sich wissenschaftlich mit diesen Phänomenen auseinanderzusetzen. Es liegt nicht in der Absicht des Korans, wissenschaftliche oder historische Erkenntnisse zu liefern, sondern die Menschen anzuhalten, sich wissenschaftlich damit zu beschäftigen. Gerade wenn es um die Schöpfung geht, soll durch solche Verse gezeigt werden, dass Gott nicht zaubert, sondern die Schöpfung durch Naturgesetze und Gesetzmäßigkeiten, die er in die Welt gesetzt hat, hervorbringt. Viele moderne Exegeten sehen eine konstruktive Brücke darin, die Rede von der Schöpfung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu vereinbaren. Daher gibt es heute eine Reihe von Gelehrten, die auch von der Evolution als von Gott gewolltem Weg der Entstehung der Schöpfung sprechen. Sufische Exegeten sehen in solchen Versen darüber hinaus einen metaphorischen Verweis auf den Ursprung des Menschen aus einfachen Substanzen (Lehm, Samentropfen), um ihn zu Demut und Bescheidenheit aufzurufen, ihn stets zu
„erden“.