Das Kopftuch schützt nicht mehr
Ein Tuch könnte den Kopf vor Sonne, Wind, Regen und Kälte bewahren. Doch seit Jahrtausenden ist anderes wichtiger.
Eh klar: flämische Patrizierin, frühe Renaissance, porträtiert vielleicht von Hans Memling oder Rogier van der Weyden. Wer mit solchem Schnellurteil an der jungen Schönen vorbeieilt, hat einiges übersehen. Nur auf den ersten Blick schaut das über den kegelförmigen Hut geschlungene Material aus wie das lichte, hauchdünne Tuch einer Niederländerin des 15. Jahrhunderts. Hier umgibt Verpackungsplastik den Kopf. Über den Hut ist ein Netz gespannt, das im Supermarkt als Orangensackerl gedient haben könnte. Dessen Metallverschluss ist da, wo eine reiche Dame aus Brügge eine Perle oder einen Edelstein hätte tragen können.
Dieses Foto der Niederländerin Suzanne Jongmans ist eine raffinierte Ein- und Verführung in die heute, Mittwoch, im Weltmuseum in Wien zu eröffnende Ausstellung über das Kopftuch. Heutige Verpackung bietet dasselbe wie einst ein eckiges Stoffstück, nämlich Schutz. So ein schmiegsames Tuch kann einen Kopf vorzüglich vor Regen, Sonne, Kälte und Wind schützen.
Wie für das Material auf Suzanne Jongmans Fotografie ist auch für das echte Kopftuch die ureigene Funktion des Schutzes fast bedeutungslos geworden. Vielmehr ist ein Kopftuch ein soziales Zeichen – als mehr oder weniger kesser Schmuck, als Ausdruck für die Zugehörigkeit zu einer sozialen oder religiösen Gruppe oder für ein striktes gesellschaftliches Reglement.
Das Kopftuch sei älter als die drei abrahamitischen Religionen Islam, Judentum und Christentum, erläutert Kurator Axel Steinmann. Die ältesten Nachweise stammten aus Mesopotamien von 1500 bis 1700 v. Chr. Auf damaligen Keilschrifttafeln seien Kleiderordnungen erhalten. Die sähen das Verschleiern für Frauen der städtischen Eliten vor, hingegen sei Sklavinnen und Landfrauen das Bedecken des Kopfes untersagt gewesen.
Von diesem Ausgangspunkt im alten Mesopotamien ufert die Kulturgeschichte des Kopftuchs in so vielfältigste Verwendungen, Bedeutungen, Materialien und Knüpfungen aus, dass jede Ausstellung – auch jene im Parterre des Weltmuseums – nur ein Aperçu bieten kann. „Es ist unmöglich, das Kopftuch auf 900 Quadratmetern zu erklären“, sagt Axel Steinmann.
Als Kurator hat er zwei Angelpunkte gewählt: Zum einen hat er aus der hauseigenen Sammlung Kopftücher aus mehreren Erdteilen und Epochen geholt – etwa ein baumwollen-seidenes Turbantuch, genannt kūfīya, aus Palmyra in Syrien aus 1831, ein baumwollenes Frauenkopftuch der 1960er-Jahre aus Guatemala oder einen seidenen Gesichtsschleier einer reichen Kairoerin vom Ende des 19. Jahrhunderts. Zum anderen werden Fotos, Videos, Modelle und Gemälde zum Thema Kopftuch von siebzehn heutigen Künstlern gezeigt – wie Suzanne Jongmans, G.R.A.M., Timna Brauer oder Susanne Bisovsky.
Bei diesem weiten Überblick über Epochen und Kulturen wird deutlich: Frauen wie Männer tragen oder trugen Kopftücher. Fromme Juden bedecken beim Beten den Kopf mit einem Gebetsschal. Der Turban, einst typisch osmanische Kopfbedeckung des Mannes, ist ein gebundenes Tuch. Am burgundischen Hof der Frührenaissance ist es nach Angaben des Kurators erstmals zur Männermode geworden, ein Tuch raffiniert um den Kopf zu wickeln; eine ähnliche Mode kam im 19. Jahrhundert auf. Oder: In Tunesien trügen Frauen wie Männer Kopftücher, nur jeweils anders gebunden, sagt Axel Steinmann und erwähnt Männer-Kopftücher auch in Indonesien oder Guatemala.
In der noch viel größeren Vielfalt für Frauen-Kopftücher – vom sogenannten Maphorion der Mutter Gottes bis zu den schicken Accessoires von Audrey Hepburn, Brigitte Bardot und Königin Elisabeth II. – gibt es weltweit eine Konstante: Wenn für Frauen ein strenges Kopftuch-Reglement gelte, sei es von Männern aufoktroyiert worden, bestätigt Axel Steinmann.
Als Beispiel fürs Kopftuch-Credo im Christentum zitiert er den heiligen Paulus, der im ersten KorintherBrief festgeschrieben hat: „Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz des Mannes.“Zudem habe Paulus die Frauen aufgefordert, ihr Antlitz mit einem Schleier zu verhüllen, wenn sie mit Gott redeten. Daher war es üblich, dass in der Kirche Frauen Kopftücher trugen, während Männer ihre Hüte abnahmen.
Lange war Axel Steinmann zufolge für Christinnen der Schleier ein Sinnbild der Ehrbarkeit, Schamhaftigkeit und Jungfräulichkeit. Daher passt ein Schleier zu Ehefrauen, Bräuten, Nonnen und Witwen. Umgekehrt hat – in Christentum wie Islam – lange dasselbe gegolten wie im alten Mesopotamien: Das Fehlen des Schleiers habe „die sexuelle Schutzlosigkeit der Frauen“bedeutet, erläutert Axel Steinmann.
Die religiöse und soziale Konnotation des Frauen-Kopftuchs ist vor allem noch im Islam geblieben. Allerdings: Sowohl in einigen muslimischen Ländern wie im Westen neige man dazu, das Kopftuch „zu vereinheitlichen und zu homogenisieren“, sagt Axel Steinmann. Das heißt: Bedeutung, Bezeichnung und Farbe werden auf wenige Varianten reduziert. Diese Ausstellung jedoch stellt sich dem mit frappierender Vielfalt entgegen – an kulturellen Bedeutungen von Religion bis Mode, an Mustern und Farben, an textilen Techniken von Drucken, Weben, Färben und Sticken, an textilen Oberflächen von glänzend, schimmernd und kuschelig weich.