Tschernobyl ist nicht vorbei
Mehr als 32 Jahre nach dem Super-GAU gibt es noch immer keine offizielle Opferzahl. Eine Frau, die 3000 Kinder aus Tschernobyl unterstützt hat, erhielt Mittwochabend dafür einen Preis.
Sind es „nur“9000, oder sind es 60.000 oder gar 1,44 Millionen – wie viele Opfer sind durch die größte Katastrophe der zivilen Nutzung der Atomkraft zu beklagen? Darüber streiten Forscher bis heute – mehr als 32 Jahre nach dem Unglück.
Am 26. April 1986 kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU. Der Reaktormantel explodierte, Trümmer und radioaktives Material wurden nach außen geschleudert, eine nukleare Wolke breitete sich über weite Teile Europas aus. Das Umfeld des AKW ist bis heute Sperrgebiet. Doch ein wissenschaftlicher Konsens über die Folgen von Tschernobyl besteht auch nach mehr als 32 Jahren nicht. Einigkeit herrscht bislang darin, dass mindestens 28 Aufräumarbeiter (Liquidatoren) bald nach ihrem Einsatz direkt an der Strahlenkrankheit gestorben sind. Bei den Überlebenden weisen mehrere Studien auf eine Zunahme von grauem Star, Hirnschäden, Leukämie und HerzKreislauf-Erkrankungen hin.
Unstrittig ist auch der Zusammenhang zwischen radioaktiver Verseuchung und dem Anstieg von Schilddrüsenkrebs, vor allem bei den damaligen Kindern in der Region. 1985 gab es 1,8 Fälle von Schilddrüsenkrebs pro 100.000 Einwohner. Fünf Jahre nach der Katastrophe stieg die Zahl drastisch an. Heute sind es noch immer 12,5 Fälle pro 100.000 Einwohner. Ein Auslöser könnte die Milch gewesen sein, die mit radioaktivem Jod-131 verunreinigt war. Die wachsende Schilddrüse von Kindern könnte das Jod wie ein Schwamm aufgesogen haben. Die radioaktiven Teilchen strahlen in der Schilddrüse und belasten umliegendes Gewebe.
Eine ehemalige Kinderärztin aus der Region berichtet, dass viele Erwachsene, die als Kinder von der Katastrophe betroffen waren, unfruchtbar seien. „Etwa 20 Prozent unserer jungen Paare können mehr als 30 Jahre nach dem Super-GAU immer noch keine Kinder bekommen. Tschernobyl hat viele sterilisiert“, so die Ärztin.
Häufig ignoriert werden die psychischen Folgen der Reaktorkatastrophe. Hunderttausende Menschen mussten nach dem Unfall von Tschernobyl ihre Heimat verlassen und jahrelang mit der erhöhten Wahrscheinlichkeit und der Angst leben, dass sie Krebs bekommen.
Bei der Verleihung der NuclearFree Future Awards am Mittwochabend in der Aula der Universität Salzburg war eine der Preisträgerinnen Linda Walker. Die Britin hat 1995, neun Jahre nach der Katastrophe, ihr Hilfswerk Chernobyl’s Children gegründet. „Wir waren seither Gastgeber für mehr als 3000 Kinder“, sagte Walker beim Festakt. Kindern aus Tschernobyl Erholungsferien zu ermöglichen sei in vielfacher Hinsicht sinnvoll. „Ihr Immunsystem wird gestärkt und ihre psychische Gesundung auch. Es entsteht Bewusstsein darüber, dass Tschernobyl weiterhin Probleme schafft, was wiederum Menschen ermutigt, sich vielfältig gegen Atomgefahren zu positionieren.“
Linda Walker bestätigte, „dass es schwierig ist, verlässliches statistisches Material zu bekommen“. Sie habe aber die Folgen des Reaktorunfalls täglich in ihrer Arbeit erlebt, etwa wenn es um behinderte Kinder ging. Manche Väter hätten die Familie verlassen, weil die Frau entschlossen war, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Vielfach seien diese Kinder in trostlose Anstalten auf dem Land eingewiesen worden, um sie vor der Öffentlichkeit zu verstecken.
„Ein Hauptteil unserer Arbeit war, Kinder und Jugendliche mit Behinderung zu unterstützen“, sagte Walker. „Auch dadurch, dass wir die Einstellung ihnen gegenüber in Weißrussland verändert haben.“