Vertrauen ist das Band, das uns zusammenhält Die Regierung ist in die Pflicht zu nehmen
Es gibt, jenseits aller Systemmüdigkeit und Politikverdrossenheit, immer noch eine starke einende Kraft in diesem Land.
Ganz offensichtlich ist es noch vorhanden, das Band, das unsere Gesellschaft zusammenhält. Wer am gestrigen Nationalfeiertag die Menschen sah, die auf dem Wiener Heldenplatz die Leistungsschau des Bundesheeres bestaunten oder die geduldig auf Einlass ins Kanzleramt und in die Präsidentschaftskanzlei, ins Parlament und ins Außenministerium, in den Verfassungsgerichtshof und sogar ins Finanzministerium warteten, um dort Präsidenten- und Politikerhände zu schütteln, der musste zur Überzeugung gelangen: Es gibt, jenseits aller Systemmüdigkeit und Politikverdrossenheit, immer noch eine starke einende Kraft in diesem Land.
Zu dieser einenden Kraft sind auch jene zu zählen, die jetzt wieder jeden Donnerstag gegen die Regierung demonstrieren. Sie sind gegen die Regierung, aber sie sind gleichzeitig für Österreich, dem sie eine andere, eine – in ihren Augen – bessere Regierung wünschen. Diese Art von Widerstand ist in einer Demokratie nicht nur erlaubt, sie ist ausdrücklich erwünscht.
In diesem Zusammenhang verdient eine Wertestudie Beachtung, die kürzlich von der Universität Wien und dem IFES-Institut durchgeführt wurde. Dieser Studie zufolge haben die Österreicherinnen und Österreicher heute ein positiveres Bild von der Politik als noch vor zehn Jahren. Der Anteil jener, die die Demokratie für ein „gutes“oder „sehr gutes“System halten, ist von 92 auf 96 Prozent geklettert. Und das, obgleich die westliche Welt in den vergangenen zehn Jah- ren durch zwei große Krisen ging, nämlich die Finanz- und die Migrationskrise. Oder vielleicht: Gerade deswegen? Möglicherweise haben die Menschen erkannt, dass es die Demokratie und ihre Institutionen gewesen sind, die mit den Folgen der beiden krisenhaften Phänomene einigermaßen gut fertiggeworden sind. Dass zwischen 2008 und 2018 auch der Anteil jener, die der Regierung vertrauen, von 17 auf 42 Prozent gestiegen ist, wird wohl dem Umstand geschuldet sein, dass die neue Regierung regiert, statt in aller Öffentlichkeit zu streiten.
Apropos streiten, apropos Regierung: „Vertrauen wird dadurch erschöpft, dass es in Anspruch genommen wird.“Dieses Bert-BrechtZitat hielt kürzlich im Nationalrat der ÖVP-Abgeordnete Werner Amon dem blauen Innenminister Herbert Kickl entgegen, der offensichtlich nicht nur das Vertrauen der Öffentlichkeit, sondern auch das Vertrauen der ÖVP einem ständigen Belastungstest unterzieht. Das treffende Zitat gilt klarerweise nicht nur für die Beziehung zwischen ÖVP und FPÖ, sondern auch für die Beziehung zwischen den Bürgern und der Regierung, beziehungsweise zwischen den Bürgern und der Politik im Allgemeinen. Das Vertrauen, das sich die Politik, wie Umfragen zeigen, in zunehmendem Maße erworben hat, kann ebenso leicht wieder verspielt werden. Regierungs- und Politikverdrossenheit sind nicht aus der Welt verschwunden, nur weil sich die Stimmung in den vergangenen Jahren ein wenig verbessert hat. Vor allem die Regierung ist in die Pflicht zu nehmen, die mitunter nicht allzu sorgsam mit ihrer Mehrheit umgeht. Gerade in diesen Tagen haben namhafte Verfassungsrechtler Einwände erhoben gegen zwei zentrale Vorhaben der Bundesregierung, nämlich gegen Teile der Sozialversicherungsreform und gegen die Kürzung der Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder. Die Regierung überging diese Vorbehalte mit großer Geste. Sie demonstrierte ihre Macht und nimmt für diese Machtdemonstration in Kauf, dass wesentliche Teile ihrer Politik vom Verfassungsgerichtshof beziehungsweise vom EuGH abgeschmettert werden. Was nicht eben als vertrauensbildende Maßnahme gelten kann.
Wenig Vertrauen schafft auch die Unverfrorenheit, mit der die Bundesregierung die Vertreter der Arbeitnehmer aus diversen politischen Aufsichtsräten, Beiräten und sonstigen Institutionen drängt. Die sozialpartnerschaftliche Verfasstheit Österreichs mag eine Reformbremse sein, doch sie hat maßgeblich zum sozialen Frieden in diesem Land und zum Vertrauen zwischen Bürgern und Obrigkeit beigetragen. Sie hat Österreich zusammengehalten. Sie sollte daher nicht entsorgt werden, nur damit der Regierung das Regieren etwas widerstandsfreier von der Hand geht. Der Regierung, der Politik im Allgemeinen ist anzuraten, unser Vertrauen nicht allzu sehr in Anspruch zu nehmen.