Wie neutral ist Österreich noch?
Ihre identitätsstiftende Wirkung ist unbestritten. Ihr „Kernbestand“gilt weiter. Was Neutralität heute bedeutet.
Am Nationalfeiertag gedenkt Österreich zweier Ereignisse: des Inkrafttretens des Verfassungsgesetzes über die immerwährende Neutralität am 26. Oktober 1955 und des am gleichen Tag stattgefunden habenden Abzugs des letzten Besatzungssoldaten (angeblich eines Russen).
Die Geschichte mit dem letzten Besatzungssoldaten stimmt leider nicht. Denn wie der Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner nachgewiesen hat, fand in Klagenfurt noch am 29. Oktober 1955 die offizielle Verabschiedung eines britischen Obersten statt.
Und einer damaligen Ausgabe der „Salzburger Nachrichten“ist zu entnehmen, dass einige Zeit nach Abzug der Besatzungstruppen eines Nachts ein US-amerikanischer GI in voller Uniform und sternhagelvoll durch die Stadt Salzburg torkelte. Bei seiner Festnahme gab der ehemalige Besatzungssoldat an, er habe urlaubsbedingt vom Abzug der USArmy nichts mitbekommen. Denn als er nach den Ferien nach Salzburg zurückkehrte, sei er gleich in die Bar gegangen …
Und wie steht es mit dem zweiten Feiergrund – der Neutralität? Schon lange hat man von diesem einstigen Hauptstreitthema der Innenpolitik nichts mehr gehört. Weshalb sich die Frage aufdrängt: Ist Österreich eigentlich noch neutral?
Die gängige offizielle Aussage dazu lautet: Der „Kernbestand“der Neutralität sei jedenfalls noch gegeben. Was über diesen Kernbestand hinausgeht, ist spätestens seit dem EU-Beitritt weggefallen. Denn der Begriff Neutralität kommt vom lateinischen „ne uter“– „keiner von beiden“. Sie bedeutet also, im Kriegsfall keiner der beiden Streitparteien einen Vorteil zu verschaffen. Ein Neutraler darf somit an keiner Seite in den Krieg eintreten, keine der beiden Seiten mit einem Handelsembargo belegen und nicht einer der beiden Seiten die Benutzung des eigenen Territoriums (etwa durch Überflugsgenehmigungen) gestatten. Und vor allem darf ein Neutraler laut Völkerrecht schon im Frieden nichts tun, was ihm in einem zukünftigen Krieg die Einhaltung der Neutralität unmöglich machen würde.
Die Schweiz, nach deren Muster Österreich 1955 seine Neutralität erklärte, zögerte deshalb sehr lange, der UNO beizutreten. Österreich hingegen tat diesen Schritt sofort, was einer ersten Aushöhlung der Neutralität gleichkam. Weitere sollten folgen, vor allem nach 1989, nachdem einer der beiden Blöcke, zwischen denen Österreich lieber neutral sein wollte, zerbrochen war.
Ein Meilenstein in dieser „Modifikation“der Neutralität war der Golfkrieg 1991, als Österreich der von den USA angeführten Koalition Überflugs- und Durchmarschgenehmigungen für den Kampf gegen den Irak erteilte. Argumentiert wurde dies damit, dass für den Golfkrieg ein Mandat der UNO vorlag, wodurch der Krieg kein Krieg, sondern eine Polizeiaktion sei, die auch ein Neutraler unterstützen könne.
Nach dem EU-Beitritt ließ Öster- reich auch die Bedingung des UNOMandats fallen. Im Amsterdamer Vertrag setzte sich die EU das Ziel einer gemeinsamen Verteidigungspolitik und gestand sich auch Kampfeinsätze außerhalb der Unionsgrenzen und ohne UNO-Mandat zu. Österreich änderte seine Verfassung, um an der gemeinsamen Verteidigungspolitik teilnehmen zu können. Es bekam aber die Möglichkeit der „konstruktiven Enthaltung“zugesagt. Österreich muss, wenn es nicht will, an EUEinsätzen also nicht teilnehmen, darf sie aber auch nicht behindern. Der wesentliche Sinn der Neutralität besteht heute somit darin, dass sie Österreich ein politisches Argument dafür bietet, wenn es bei einer Aktion nicht mitmachen will.
Auch der viel zitierte „Kernbestand“der Neutralität ist noch in Kraft. Er besteht aus drei Komponenten: keinem Militärbündnis anzugehören, sich an keinen Kriegen zu beteiligen und keine fremden Truppen im Land zuzulassen. Bei den Punkten zwei und drei gilt die erwähnte Ausnahme des UNOMandats, durch das Kriege keine Kriege mehr sind. Dann kann auch fremden Truppen der Durchmarsch oder Überflug gestattet werden.
Und wie ist das mit dem Militärbündnis? In der EU gibt es einen gemeinsamen Militärstab, einen Militärausschuss und ein Gremium für eine gemeinsame Rüstungspolitik. An allen drei Institutionen nimmt Österreich teil. Was die EU von einem Militärbündnis noch unterscheidet, ist, dass es keine gegenseitige Beistandspflicht gibt, wie sie in der NATO gilt. Die EU-Mitgliedschaft bietet also keinen militärischen Schutz. Die Verteidigung seines Territoriums muss jedes EULand selbst besorgen.
Vor allem kommt der Neutralität heute somit ein metaphysischer Zweck zu. Oder wie es die Regierung in ihrem Koalitionspakt formuliert hat: „Die Neutralität Österreichs ist ein wichtiger identitätsstiftender Faktor.“