Die Gemeinsamkeiten sind aufgebraucht
100 Jahre Republik: Zum runden Geburtstag gibt es jede Menge Gedenken. Doch nur wenige Gemeinsamkeiten. Es ist Zeit für einen neuen Aufbruch.
Den Dialog suchen. Nicht verweigern.
Die österreichische Republik, die am Montag ihren hundertsten Geburtstag feiert, hat eine Geschichte voller Brüche und Widersprüche. Den ersten annähernd demokratischen Jahren des neuen Staatswesens folgte alsbald der blutige Konflikt zwischen den Lagern, der Bürgerkrieg, die Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur.
Dann kamen die finsteren Jahre der Hitler-Tyrannei.
Und dann plötzlich: Der Weg ans Licht. Befreiung, Staatsvertrag, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Ausbau des Sozialstaats, EU-Beitritt. In all den Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die Österreicher eine gemeinsame Erzählung. Oft auch ein gemeinsames Verschweigen, man denke an die jahrelang nicht wirklich geführte Diskussion über die Schuld an Krieg, Kriegsverbrechen und Judenmord. Die großen Lager – und über Jahrzehnte hatte Österreich nur zwei große Lager, das sozialdemokratische und das christlichsoziale – waren sich halbwegs einig in der Betrachtung der Geschichte seit 1945.
Das ist vorbei. Und zwar nicht ausschließlich aus dem Grund, dass es nunmehr ein drittes Lager gibt, das freiheitliche, das doch eine andere Geschichtsauffassung hat als ÖVP und SPÖ; was zur Folge hat, dass plötzlich Bücher mit NaziLiedgut und fragwürdige Auffassungen über den Zweiten Weltkrieg wieder Teil des öffentlichen Diskurses werden. Nein, auch zwischen ÖVP und SPÖ beziehungsweise zwischen Mitte-rechts und Mitte-links scheinen die Gemeinsamkeiten auf- gebraucht. Selbst der bewährte antinazistische Grundkonsens taugt nicht mehr als Kitt. Wenn Bundeskanzler Sebastian Kurz, wie er diese Woche verkündete, ein Denkmal mit den Namen der im Hitler-Regime ermordeten Juden errichten lassen will, schallt ihm von links nicht etwa die erwartete Zustimmung entgegen, sondern Ablehnung. Und zwar warum? Weil von diesem Kanzler einfach nichts Gutes kommen kann und darf. Und weil eine rechtskonservative Regierung, wenn sie schon etwas Richtiges tut, dies ohne jeden Zweifel aus den falschen Motiven tut, zumindest nach Ansicht ihrer Kritiker, die sich für diese Argumentation freilich erheblich verrenken müssen.
Dann kann man beispielsweise im geschätzten „Falter“lesen, dass eine solche Gedenkwand für die ermordeten Juden, wie die Regierung sie errichten lassen will, „wie aus der Zeit gefallen“wirke. Und dass Wien doch eh schon „ein den jüdischen Opfern gewidmetes ShoahDenkmal“habe und daher offenbar kein weiteres brauche – eine Argumentation, die man bisher nur von verstockten Rechten kannte, die genug vom ewigen Gedenken haben und gern den Schlussstrich ziehen wollen. Selbst die im genannten Blatt konstatierte „ausschließliche Fokussierung“der Regierung „auf den Kampf gegen den Antisemitismus“entspringt nach Ansicht dieses Blattes nicht etwa hehren Motiven, nein: Sie finde statt, um der „offen islamfeindlichen Politik der Regierung Kurz“die rechte, Pardon: die richtige Kontur zu geben.
Eine sachliche Diskussion über die Bewertung der jüngeren Vergangenheit und die Einschätzung der näheren Zukunft scheint in diesem Klima nur schwer möglich.
Was ist zu tun? Einige Umfragen der jüngeren Zeit haben ergeben, dass die Österreicherinnen und Österreicher der Politik im Allgemeinen und der Demokratie im Besonderen heute positiver gegenüberstehen als noch vor ein paar Jahren. Man könnte auch sagen: Das Vertrauen der Bürger in unser Staatswesen ist gewachsen. Das ist ein Fundament, auf dem aufzubauen wäre, und die politischen Kräfte hätten die Chance, auf der Grundlage dieses Fundaments nach dem Gemeinsamen zu suchen. Die Regierungsparteien täten also gut daran, die Opposition als Partnerin zu begreifen und ihr nicht vorsätzlich den Dialog zu verweigern. Wie zuletzt wieder passiert, als die Regierung das Gesetz über die Reform der Staatsholding faktisch ohne Begutachtung dem Parlament vorlegte, vom durchs Parlament gejagten Gesetz über den zwölfstündigen Arbeitstag ganz zu schweigen.
Die oppositionelle Linke wiederum täte gut daran, nicht auch noch die anständigsten Handlungen der Regierung, etwa die Bekämpfung des Antisemitismus, als unanständig zu diffamieren.
Auf dass unsere Nachfahren in hundert Jahren einen weiteren runden Geburtstag einer erfolgreichen Republik feiern können.