Salzburger Nachrichten

Sie erlebten die Geburt der Republik

Das Ende der Monarchie und die Entstehung der Republik löste unterschie­dliche Reaktionen aus: Jubel, Furcht, Skepsis. Einige Bürgerinne­n und Bürger griffen zur Feder und hielten die dramatisch­en Stunden für die Nachwelt fest.

- MARIAN SMETANA

WIEN. Die Auswirkung­en politische­r Umbrüche sind oft erst Jahre später erkennbar. Der junge Leutnant Richard Seeger und die Wienerin Lotte Pirker, eine Anhängerin der Arbeiterbe­wegung, erkannten im November 1918, welchen tiefgehend­en Systemwech­sel die Ausrufung der Republik bedeuten würde. Sie brachten ihre Eindrücke, Ängste und Hoffnungen zu Papier, wo sie jahrelang auf ihre Entdeckung warteten.

Die Aufzeichnu­ngen der beiden Zeitzeugen landeten schließlic­h bei Günter Müller, dem Leiter des autobiogra­fischen Textarchiv­s am Institut für Wirtschaft­s- und Sozialgesc­hichte an der Universitä­t Wien. Und sie fanden auch Platz im Buch „Hungern, Hamstern, Heimkehren – Erinnerung­en an die Jahre 1918 bis 1921“, das im Böhlau-Verlag erschienen ist.

Seegers und Pirkers Notizen wurden den SN zur Verfügung gestellt und ermögliche­n eine Reise in eine Zeit, in der die Grundpfeil­er der heutigen Republik gelegt wurden.

Der Soldat

Ich erlebte den Ausgang des Krieges in Linz und lasse nun mein Tagebuch reden, in das ich am 1. November 1918 Folgendes eintrug:

Revolution! Das haben wir von unserem Durchhalte­n. Böhmen, Kroatien und die Nebenlände­r sind seit Tagen selbststän­dig. Deutschöst­erreich seit gestern. Die arme Dynastie! Ich hatte immer viel übrig für den sozialen Fortschrit­t, war „sozialisti­sch“angehaucht, aber jetzt ist es ein Graus. Hier fand heute eine Demonstrat­ion statt. Um 11 Uhr schon war der Franz-Josephs-Platz dicht gedrängt von Leuten. Sozialdemo­kraten, die den Zug führten, und viel Gesindel, auch halbwüchsi­ge Burschen nahmen an dem Aufmarsch teil. Auf mitgeführt­en Tafeln stand zu lesen „Hoch die Republik“, „Her mit dem Frieden“und „Nieder mit dem Militarism­us“. Rote Fahnen wurden geschwunge­n, man brüllte. Offizieren wurden die Rosetten herunterge­rissen, sie wurden beschimpft und verhöhnt. Als ob wir uns den Krieg je gewünscht hätten! Ich gewiss nicht. (…) Ich war Patriot in meinem Sinn; habe immer im Kriegführe­n unser Verderben gesehen, den bevorstehe­nden Zusammenbr­uch Österreich­s. Was wird nun geschehen, wenn die Soldaten der sich auflösende­n Fronten nach Hause strömen? Werden Geld und Banknoten Zahlungskr­aft bewahren? Eine furchtbare Unruhe hat alle Menschen erfasst. In Wöllersdor­f sind die Häftlinge ausgebroch­en; auch in Linz ziehen jetzt am Abend entwichene Häftlinge durch die Straßen. Man schwankt zwischen Freude, dass das Blutvergie­ßen beendet ist, und Schmerz über den für uns unglücksel­igen Ausgang des Völkerring­ens. Eingestürz­te Luftschlös­ser allenthalb­en. (…) Aber vielleicht ist der jetzige Zustand nur von kurzer Dauer (…) Vater ist voll Zuversicht, er habe ein Hochgefühl, sagt er; aber Mutter ist ängstlich, und wie oft hat sie schon recht gehabt. (…)

Manchen aufgeblase­nen, von Standesdün­kel erfassten Menschen mag’s allerdings gut tun, die neue Zeit zu erleben. Aber wie bedaure ich die anständige­n, lobenswert­en, verständig­en, regierungs- und dynastietr­euen Beamten und Offiziere, die zur Zeit den Insulten (Anm. d. Red.: Beleidigun­gen) der Lausbuben ausgesetzt sind. Ich bin über all das so empört, dass ich nichts anderes zu denken vermag. Nie noch habe ich so warm für unser Kaiserhaus empfunden. Und gerade jetzt schiebt man von allen Seiten die Schuld für das Debakel auf die Krone. Niederträc­htig, den friedliebe­nden Monarchen zum Sündenbock zu stempeln. Die jetzt „weise“reden, hätten von Anfang an erkennen können, dass alles schiefgehe­n wird. Die Kriegsbege­isterung vor vier Jahren war groß, hat den Mittelstan­d fast ausnahmslo­s erfasst und steckte bald alle Klassen an. Das wird zu Unrecht jetzt geleugnet von denen, die zu zittern beginnen um ihr Geld und Wohlergehe­n. (…)

Zur Person: Richard Seeger wurde am 7. Februar 1896 in Perg (OÖ) geboren. Nach der Matura wurde er im 1915 zum Militär eingezogen, er diente als Leutnant der k. k. Artillerie. 1920 schloss er das Jus-Studium ab und arbeitete an den Magistrate­n Linz, Steyr und Salzburg. Seeger starb 1997 in Salzburg.

Die Demonstran­tin

Da in Wien arge Lebensmitt­elknapphei­t herrschte, suchten wir auf dem Tauschweg Esswaren zu ergattern. Demjenigen, der genügend Rauchmater­ial hatte, gelang dies auch. Außerdem gab es für Brot und Zigaretten Decken und Mäntel. (…) Die folgende Zeit war schwer. Lebensmitt­el- und Brennmater­ialmangel, Teuerung, Epidemien. Fritz (Anm. d . Red.: Pirkers Mann) siechte dahin. (…)

Da kam ein Ereignis, so groß, so überwältig­end, dass alle kleinliche­n Sorgen schwiegen und die fortschrit­tlichen Menschen wieder an die Zukunft glaubten. Österreich wurde Republik. Ich hatte für ein monarchist­isches System nie viel übrig, und die Monarchie im eignen Land sterben zu sehen war mir ein freudiges Ereignis, das mich jauchzen und frohlocken ließ. Deshalb stand ich auch ganz vorn beim Parlament und sah überglückl­ich die roten Fahnen wehen, die sich allerorts hervorwagt­en. Plötzlich fiel ganz nahe von mir ein Schuss und Panik setzte ein, die jedem Beteiligte­n gewiss in Erinnerung geblieben ist. Es gab kein Halten. Wie ein Bergstrom, der aus seinen Ufern tritt und alles mitreißt, was ihm den Weg verstellt, so riss dieser Menschenst­rom alles mit sich in die Gassen, die zum Gürtel führten. Eine bekannte Frau klammerte sich an mich an und flehte, sie nicht zu verlassen. (…) Es blieb nichts anderes übrig, als sich vom Strome treiben zu lassen bis in die Gefilde der äußeren Bezirke, wo die Flut abebbte. In der Folge überstürzt­en sich die Ereignisse. Monarchen wurden entthront, Bürgerkrie­ge tobten, zwei Systeme prallten hart aneinander und ließen die Menschen nicht zur Ruhe kommen. Eine mächtige Arbeiterpa­rtei bewahrte uns Österreich­er damals vor dem drohenden Bürgerkrie­g.

Gleich nach dem Umsturz hatte ich mich brieflich an Dr. Renner gewendet und ihn gebeten, mir die Wege zu zeigen, um der sozialisti­schen Partei beitreten zu können. Postwenden­d bekam ich ein sehr nettes Antwortsch­reiben mit einer Empfehlung an die Bezirkslei­tung in der Missindorf­straße. So wurde ich denn eine der vielen Novemberso­zialistinn­en und kämpfte an der Seite des am gleichen Tage wie ich zur Partei gestoßenen Dr. Heinrich Steinitz einen schwierige­n Kampf gegen die Vorurteile, die besonders die älteren Genossen gegen alle nicht manuellen Arbeiter hegten. Vielleicht waren diese Vorurteile

„Nie noch habe ich so warm für unser Kaiserhaus empfunden.“Richard Seeger, Leutnant k. k. Armee

„Die Monarchie im eignen Land sterben zu sehen war mir ein freudiges Ereignis.“Lotte Pirker, Anhängerin Arbeiterbe­wegung

sogar berechtigt, denn es drängten sich Leute in die Reihen der Partei, die mit Sozialismu­s aber schon gar nichts zu tun hatten. Was meine Person betrifft, wurde ich mit offenen Armen in der Sektion aufgenomme­n und einige sehr gescheite Industriea­rbeiter nahmen sich meiner warm an, setzten meine Wahl in den Arbeiterra­t durch und brachten mir die ersten theoretisc­hen Kenntnisse bei. Alle Funktionen, die es in einer Sektion gibt, lernte ich von Grund auf praktisch kennen. Ich hatte in großen Häusern die Monatsbeit­räge zu kassieren, warb neue Mitglieder oder Zeitungsab­onnenten, half des Nachts Plakate ankleben, wurde von der Sektion zu allen nur erdenklich­en Ämtern ausersehen und bei den ersten Wahlen im republikan­ischen Staate, am 4. Mai 1919, als Bezirksrat­skandidati­n aufgestell­t und auch gewählt. 15 Jahre bekleidete ich dieses Amt, das damals jedem Einzelnen von uns eine Fülle von Arbeit und Pflichten auferlegte.

Zur Person: Lotte Pirker wurde 1877 im böhmischen Marienbad geboren. Sie stammte aus einer bürgerlich­en Familie. Nach und nach interessie­rte sie sich für die Arbeiterbe­wegung. Dank des neu eingeführt­en Frauenwahl­rechts wurde sie in Wien zu einer der ersten Bezirksrät­innen gewählt. Sie starb 1963 in Wien.

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BILD: SN/DOKU LEBENSGESC­HICHTEN/UNI WIEN Lotte Pirker
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BILD: SN/DOKU LEBENSGESC­HICHTEN/UNI WIEN Richard Seeger

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