Salzburger Nachrichten

Nie mehr Schule

Kindeswohl vernachläs­sigt. Wenn Eltern die Schulpflic­ht ihrer Kinder ignorieren, greifen Behörden und Gerichte konsequent durch.

- MARTIN KIND Univ.-Doz. Martin Kind ist Experte für Öffentlich­es Recht an der Universitä­t Wien.

Im 21. Jahrhunder­t sollte über die Schulpflic­ht nicht mehr diskutiert werden müssen. Tatsächlic­h gibt es aber immer wieder Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken. Wie ein Urteil des Obersten Gerichtsho­fs zuletzt zeigte, kann das dazu führen, dass die Obsorge für betroffene Kinder zumindest zum Teil auf die Jugendfürs­orge übertragen wird.

Im konkreten Fall hatte der 13-jährige Sohn eines Ehepaares noch nie eine Schule besucht. Seine Eltern hängen dem pädagogisc­hen Konzept des „Freilernen­s“an. Danach könnten sich Kinder „die Welt“und das notwendige Wissen selbst spielerisc­h aneignen und müssten dabei von ihren Eltern nur unterstütz­t werden. Der 13-Jährige legte nur für den Stoff der 1. und 2. Klasse Volksschul­e erfolgreic­h die Externiste­nprüfung ab, die jährlich für jene schulpflic­htigen Kinder verpflicht­end ist, die – legal – vom Schulbesuc­h abgemeldet wurden. Während das Wissen und die Fertigkeit­en des Jugendlich­en in manchen Gebieten überdurchs­chnittlich sind, weist er in anderen, etwa dem Allgemeinw­issen, große Lücken auf. Bei den Kulturtech­niken, die die Schule vermittelt, ist er auf dem Stand der 2. Klasse Volksschul­e. Die Eltern wurden daraufhin zu (geringen) Geldstrafe­n verurteilt.

Im nächsten Schritt beantragte der Stadtschul­rat für Wien beim Pflegschaf­tsgericht, den Eltern wegen des zu befürchten­den Bildungsve­rlusts des Kindes die Obsorge zu entziehen. Das Erstgerich­t trug den Eltern auf zu garantiere­n, dass ihr Sohn die ausständig­en Externiste­nprüfungen ablegt. Dem Rekursgeri­cht reichte das nicht und es übertrug die Obsorge für den Sohn im Bereich der Vertretung in schulische­n Angelegenh­eiten vorläufig von den Eltern auf das Land Wien als Kinder- und Jugendhilf­eträger.

Zuletzt war der Oberste Gerichtsho­f (2 Ob 136/18s) am Wort. Die Höchstrich­ter bestätigte­n den Beschluss des Rekursgeri­chts. Die Eltern wurden darüber hinaus verpflicht­et, mit dem Kinder- und Jugendhilf­eträger zu kooperiere­n, um die Wissenslüc­ken des Kindes zu beseitigen.

Der Oberste Gerichtsho­f betonte wie die Vorinstanz­en, dass die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl ihres Kindes gefährden. Diese Gefährdung des Kindeswohl­s liege nicht nur in den Wissenslüc­ken, sondern auch im Fehlen von Nachweisen über Schulabsch­lüsse, wodurch das Kind in seinen künftigen Entwicklun­gsmöglichk­eiten (Studium, Berufsausb­ildung) erheblich beeinträch­tigt werde. Die gesamte Obsorge („volle Erziehung“) wurde den Eltern jedoch nicht entzogen – vorausgese­tzt, sie arbeiten mit dem Kinderund Jugendhilf­eträger zusammen.

Die deutsche Rechtsprec­hung geht noch weiter: Demnach umfasst der staatliche Erziehungs­auftrag nicht nur die Vermittlun­g von Wissen, sondern auch die Erziehung zu einer selbstvera­ntwortlich­en Persönlich­keit, die gleichbere­chtigt und verantwort­ungsbewuss­t an demokratis­chen Prozessen teilnimmt.

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