Nie mehr Schule
Kindeswohl vernachlässigt. Wenn Eltern die Schulpflicht ihrer Kinder ignorieren, greifen Behörden und Gerichte konsequent durch.
Im 21. Jahrhundert sollte über die Schulpflicht nicht mehr diskutiert werden müssen. Tatsächlich gibt es aber immer wieder Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken. Wie ein Urteil des Obersten Gerichtshofs zuletzt zeigte, kann das dazu führen, dass die Obsorge für betroffene Kinder zumindest zum Teil auf die Jugendfürsorge übertragen wird.
Im konkreten Fall hatte der 13-jährige Sohn eines Ehepaares noch nie eine Schule besucht. Seine Eltern hängen dem pädagogischen Konzept des „Freilernens“an. Danach könnten sich Kinder „die Welt“und das notwendige Wissen selbst spielerisch aneignen und müssten dabei von ihren Eltern nur unterstützt werden. Der 13-Jährige legte nur für den Stoff der 1. und 2. Klasse Volksschule erfolgreich die Externistenprüfung ab, die jährlich für jene schulpflichtigen Kinder verpflichtend ist, die – legal – vom Schulbesuch abgemeldet wurden. Während das Wissen und die Fertigkeiten des Jugendlichen in manchen Gebieten überdurchschnittlich sind, weist er in anderen, etwa dem Allgemeinwissen, große Lücken auf. Bei den Kulturtechniken, die die Schule vermittelt, ist er auf dem Stand der 2. Klasse Volksschule. Die Eltern wurden daraufhin zu (geringen) Geldstrafen verurteilt.
Im nächsten Schritt beantragte der Stadtschulrat für Wien beim Pflegschaftsgericht, den Eltern wegen des zu befürchtenden Bildungsverlusts des Kindes die Obsorge zu entziehen. Das Erstgericht trug den Eltern auf zu garantieren, dass ihr Sohn die ausständigen Externistenprüfungen ablegt. Dem Rekursgericht reichte das nicht und es übertrug die Obsorge für den Sohn im Bereich der Vertretung in schulischen Angelegenheiten vorläufig von den Eltern auf das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger.
Zuletzt war der Oberste Gerichtshof (2 Ob 136/18s) am Wort. Die Höchstrichter bestätigten den Beschluss des Rekursgerichts. Die Eltern wurden darüber hinaus verpflichtet, mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger zu kooperieren, um die Wissenslücken des Kindes zu beseitigen.
Der Oberste Gerichtshof betonte wie die Vorinstanzen, dass die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl ihres Kindes gefährden. Diese Gefährdung des Kindeswohls liege nicht nur in den Wissenslücken, sondern auch im Fehlen von Nachweisen über Schulabschlüsse, wodurch das Kind in seinen künftigen Entwicklungsmöglichkeiten (Studium, Berufsausbildung) erheblich beeinträchtigt werde. Die gesamte Obsorge („volle Erziehung“) wurde den Eltern jedoch nicht entzogen – vorausgesetzt, sie arbeiten mit dem Kinderund Jugendhilfeträger zusammen.
Die deutsche Rechtsprechung geht noch weiter: Demnach umfasst der staatliche Erziehungsauftrag nicht nur die Vermittlung von Wissen, sondern auch die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit, die gleichberechtigt und verantwortungsbewusst an demokratischen Prozessen teilnimmt.