Ist Österreich eine Nation? Eine Frage im Auf und Ab
Vor 100 Jahren wurde Deutschösterreich gegründet. Daraus wurde Österreich. Aber die Entwicklung geht weiter.
Heute gedenkt Österreich der Ausrufung der Republik. Betonung auf gedenkt. Dass das 100-Jahr-Jubiläum gefeiert würde, wäre zu viel gesagt. Diese Zurückhaltung liegt zum einen an der ermüdenden Inflation an Gedenktagen im heurigen Jahr. Zum anderen liegt es daran, dass dem 12. November 1918 ein „sehr unangenehmer Geruch“anhaftet, wie der Historiker Karl Vocelka formulierte.
Denn ausgerufen wurde nicht die Republik Österreich, sondern die Republik Deutschösterreich, die ausdrücklich und per Gesetz zum Bestandteil der Deutschen Republik erklärt wurde. Diesen erwünschten Anschluss – der dann wegen eines Vetos der Siegermächte des Ersten Weltkriegs nicht zustande kam – heute zu feiern käme einem seltsam vor.
Damals aber galt er den Österreichern als völlig logisch. Ein überwältigender Teil von ihnen fühlte sich der deutschen Nation zugehörig. Und da die Tschechen, Ungarn, Jugoslawen etc. die sterbende Habsburgermonarchie verlassen hatten und Nationalstaaten bildeten, sahen die deutschsprachigen Österreicher ihre neue Heimat in Deutschland.
Nach dem Anschlussverbot der Westmächte legte Österreich trotzdem darauf Wert, der zweite deutsche Staat zu sein. Als es mit dem Anschluss dann so weit war – im März 1938 –, trat binnen weniger Wochen die Ernüchterung ein: Die Deutschen führten sich derart auf, dass vielen Österreichern erste Zweifel kamen, ob man wirklich eine gemeinsame Nation sei.
Ab der Niederlage 1945 war es für die Österreicher dann klar: Man wollte mit den Deutschen nichts mehr zu tun haben. Der Aufbau einer österreichischen Nation begann.
Im Spiegel der Meinungsforschung lässt sich dieser Aufbau klar nachverfolgen. Bei einer Umfrage im Jahr 1956 bejahten 49 Prozent der Österreicher die Existenz einer österreichi- schen Nation, 47 Prozent verneinten sie. Bei einer Umfrage vor zehn Jahren lautete das Verhältnis bereits 82 zu 7 Prozent. Die Existenz der österreichischen Nation war unbestritten, und wer sie als „ideologische Missgeburt“bezeichnete, wie der im Deutschnationalismus wurzelnde FPÖ-Obmann Jörg Haider, musste dafür härteste Kritik einstecken.
Heute ist von der österreichischen Nation wenig die Rede. Selbst am Nationalfeiertag wird sie kaum beschworen. Als Gemeinschaft von Menschen mit gleicher Sprache, gleichen Werten, gleicher Herkunft und gleichen historischen Erfahrungen wirkt sie in einer Zeit, in der die Mehrheit der Wiener Schulkinder Migrationshintergrund hat, wie ein Versatzstück aus vergangenen Zeiten.
An der österreichischen Nation sieht man das Auf und Ab der Geschichte.