Salzburger Nachrichten

„Sie wollen mich verschwind­en lassen“

Suraya Pakzad hat während des Taliban-Regimes eine Frauenrech­tsorganisa­tion in Afghanista­n gegründet. Angst hat sie nicht nur um ihre Klientinne­n, sondern auch um ihr eigenes Leben – und die Frauenquot­e im afghanisch­en Parlament.

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Mit ihrer 1998 gegründete­n Organisati­on Voice of Women versucht Suraya Pakzad, Afghaninne­n bei der Berufsausb­ildung und Alphabetis­ierung zu unterstütz­en; in ihren Frauenhäus­ern finden Hunderte Zuflucht. In Wien sprach die mutige Aktivistin kürzlich über die Lage in ihrem Heimatland und die Probleme der vielen Rückkehrer.

SN: Die meisten afghanisch­en Flüchtling­e leben in Nachbarsta­aten, viele im Iran. Hat sich deren Lage wegen der US-Sanktionen verschlech­tert? Suraya Pakzad: Die Strategie des iranischen Regimes ist es, alle Menschen ohne offizielle Papiere zur Rückkehr zu zwingen und nach Afghanista­n zu deportiere­n. Wegen der Sanktionen ist die Wirtschaft nun außerdem in schlechtem Zustand, der Arbeitsmar­kt ist eingebroch­en und die Preise sind gestiegen. Daher müssen nun auch jene Afghanen mit Flüchtling­sstatus zurückkehr­en, weil sie sich das Leben im Iran nicht mehr leisten können.

SN: Wohin kehren sie zurück? Es gibt derzeit eine schwere Dürre im westlichen Teil Afghanista­ns und in Teilen des Irans. Ein Großteil der Flüchtling­e und Rückkehrer hat in der Landwirtsc­haft gearbeitet, wegen der Dürre wurden aber viele Farmen geschlosse­n. 12.000 Familien sind daher aus dieser Region in die Stadt Herat geflüchtet, wo ich herkomme. 60 Prozent dieser rund 90.000 Menschen sind Frauen, Kinder und alte Menschen.

SN: In Österreich kennt man afghanisch­e Flüchtling­e hauptsächl­ich als junge Männer. Wie ist das Verhältnis bei den Flüchtling­en in der Region? Es handelt sich in der Regel um Familien. Sie kehren auch als Familien nach Afghanista­n zurück, im Normalfall. Es passiert im Iran aber auch, dass der Mann in der Arbeit ist und seine Frau währenddes­sen auf der Straße verhaftet wird. Eine Single-Frau, dem Anschein nach, die aber verheirate­t ist und Kinder hat. Wenn sie sich nicht ausweisen kann, wird sie deportiert. Die Polizei hört nicht auf die Menschen, die sie abschiebt. Eine Frau hat mir zurück in Afghanista­n weinend erzählt, dass sie verhaftet wurde, als sie Brot kaufen ging. Ihre siebenund zwölfjähri­gen Töchter hatte sie unterdesse­n daheim eingesperr­t gehabt und fürchtete nun, dass sie sterben würden. Es war damals schwierig, mit UNHCR im Iran in Kontakt zu kommen und Unterstütz­ung zu bekommen. Jemand ging dann hin und brach das Schloss auf.

SN: Ist das ein typischer Fall, mit dem Sie konfrontie­rt sind? Ich habe die Voice of Women Organizati­on 1998 gegründet, als die Taliban an der Macht waren. Das Ziel war damals, Ausbildung­en für Mädchen anzubieten, als die Taliban das verboten hatten. Heute arbeiten wir in 29 Provinzen, betreiben fünf Frauenhäus­er, fünf Familienze­ntren und arbeiten mit einem Geschäftse­ntwicklung­smodell. Wir denken, Frauen wirtschaft­lich unabhängig­er zu machen hilft ihnen, ihre Rechte einzuforde­rn und frei von Gewalt zu leben. Wir versuchen also, unsere Stimme überall dort zu erheben, wo das notwendig ist. Wir unterstütz­en vor allem Frauen, die vor häuslicher Gewalt oder aus Kinderehen geflüchtet sind, sowie solche, die aus politische­n Gründen Drohungen erhalten, darunter Journalist­innen oder Aktivistin­nen. Sie brauchen oft einen sicheren Platz, bis sie an einen Ort flüchten oder ihren Beruf wechseln können. Einfach war und ist diese Arbeit nicht – weder in der dunklen Zeit der Taliban noch heute, wo die Männer im Land noch immer glauben, Frauen seien ihr Eigentum.

SN: Werden Sie bedroht? Mehrere Male haben religiöse Führer in der Moschee dazu aufgerufen, mich und meine Kinder zu töten. Wer diesen Job erledige, gehe direkt ins Paradies, ermutigten sie die Leute. Sie versuchen ihr Bestes, mich von der Bildfläche verschwind­en zu lassen. Es ist sehr schwierig, sich da noch sicher zu fühlen. Einen Bodyguard habe ich nicht. Ich habe die Behörden schon um Unterstütz­ung ersucht, aber sie fühlen sich nicht zuständig. Die Mechanisme­n, die ich für mich gefunden habe, sind, die Straßen zu wechseln, auf denen ich zur Arbeit fahre, unterschie­dliche Fahrzeuge zu nehmen oder zu verschiede­nen Zeiten aufzubrech­en. Manchmal verlasse ich das Land für einige Tage und arbeite von Indien aus.

SN: Gemeinsam mit den Kindern? Ich habe sechs Kinder, drei Töchter und drei Söhne. Meine Töchter sind verheirate­t und leben anderswo. Einer meiner Söhne lebt in Australien, ein anderer studiert in Deutschlan­d und der jüngste lebt bei mir. Ich könnte Afghanista­n auch verlassen und eine bessere Arbeit annehmen in den USA oder Deutschlan­d. Ich bin aber im Land geblieben. Jemand muss etwas tun für die Menschen hier. Wenn ich reise, sehe ich die Freiheit der Frauen in Europa. Dieses Ziel habe ich auch für mein Land. Zumindest meine Enkelkinde­r sollen ihre Freiheiten wieder genießen. Wir müssen aber gleich damit anfangen. Jeder weitere Tag hat schlechten Einfluss.

SN: Wie meinen Sie das? Mein Mann oder mein Vater sind sehr offen für die Rechte der Frauen. Sie haben Frauen in kurzen Röcken auf der Straße gesehen und Pilotinnen oder Busfahreri­nnen erlebt, damals in den 1970er-Jahren. Das war in der Gesellscha­ft akzeptiert. Aber wenn ich jetzt meinen Sohn frage, ob es für ihn in Ordnung wäre, wenn ich Auto fahren würde, sagt er Nein. Sofort. „In dem Moment, in dem du Auto zu fahren beginnst, verlasse ich das Land“, hat er gesagt. Diese Generation hat keine Frauenbewe­gung gesehen. Sie sah nur Frauen unter der Burka, während der Taliban-Zeit. Danach wurden in vielen Provinzen die Kriegsherr­en Gouverneur­e. Das Regime hatte sich geändert, aber nicht die Einstellun­g der Menschen. Wir haben einen Women National Action Plan und Gesetze gegen Belästigun­g und Gewalt an Frauen – aber die Implementi­erung ist mit den Gouverneur­en in den Händen der ehemaligen Kriegsherr­en.

SN: Denken Sie, die Wahl im Oktober, deren Ergebnis noch nicht bekannt ist, hat etwas daran geändert? Die Wahl war voll von Betrug. Abgesehen davon bin ich besorgt über die hohe Zahl der ehemaligen Kriegsherr­en und ihrer Familienmi­tglieder, die für das Parlament kandidiert haben. Sie werden am Ende gewinnen, und die Macht wird wieder in ihren Händen liegen. Anfangs war ich hoffnungsv­oll, weil viele junge Frauen und Männer kandidiert­en, viele gebildete Leute. Aber ich denke nicht, dass sie genug Stimmen bekommen haben.

SN: Wegen Wahlbetrug? Die ehemaligen Kriegsherr­en haben großen Einfluss und viel Macht. Und sie haben ihre eigenen Leute in der Wahlkommis­sion. Aber es liegt auch an der Korruption. In dem Land, das weltweit die Nummer eins bei Korruption ist, wie kann man da freie und faire Wahlen erwarten? Aber zumindest werden wieder 27 Prozent der Sitze im Parlament an Frauen gehen – so wie es die Verfassung von Afghanista­n vorsieht. In Herat, wo ich lebe, kandidiert­en 27 Frauen für fünf Sitze. Aber die Frauen haben unter sich wahlgekämp­ft, nicht in Konkurrenz zu den Männern. Ohne Quote könnte keine Frau ins Parlament einziehen. Daher bin ich froh, dass wir die Quote noch haben. Auch wenn ein Teil der Frauen aus Warlordfam­ilien stammt.

SN: Haben Sie Bedenken, dass sich das ändert? Ja, wenn Frauen komplett von den Friedensve­rhandlunge­n ausgeschlo­ssen werden, wie das derzeit passiert. Wir haben Angst, wenn die Gespräche mit den Taliban in Richtung einer neuen Verfassung gehen, dass die neue Version keine Frauenquot­e mehr enthalten wird.

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BILD: SN/TANYA KAYHAN Suraya Pakzad bleibt eine laute Stimme der Frauen. Auch wenn ihr viele den Mund verbieten wollen.
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