Warum fehlt uns so oft der Mut?
Wann haben Sie sich zuletzt eine „mutige Erlaubnis“gegeben? Wann haben Sie sich bei einer Entscheidung für das entschlossen, wovor Sie Angst hatten? Ein SN-Gespräch über Verletzlichkeit, Vertrauen und Zuversicht.
Die Theologin und Autorin Melanie Wolfers lädt dazu ein, mutig durch das Leben zu gehen.
SN: Sie haben ein Buch über Mut geschrieben. Warum hat Sie das Thema so stark bewegt?
Wolfers: In meiner Arbeit in Seelsorge und Beratung erlebe ich oft, dass Angst die Menschen davon abhält, ihr Leben mit beiden Händen zu ergreifen. Da sagt jemand Ja, obwohl er Nein meint. Da scheut sich jemand, Entscheidungen zu treffen, aus Angst, etwas falsch zu machen. Man fühlt sich elend – und bleibt doch lieber im vertrauten Unglück hocken, als Neues zu wagen.
Zugleich haben es viele satt, immer nur vorsichtig, quasi unter Vorbehalt zu leben. Sie wollen mutig leben. Aus vollem und ganzem Herzen. Ich habe immer wieder erfahren: Mut öffnet die Tür zum Leben. Natürlich ist ein Schiff geschützter, wenn es im Hafen bleibt. Aber dafür werden Schiffe nicht gebaut.
SN: Wo würden Sie sich selbst einordnen: Ich bin eher zaghaft, ich bin guten Mutes, ich neige zum Übermut. Oder ist das situativ sehr verschieden?
Ich bin im Allgemeinen guten Mutes. Zugleich kenne ich Situationen, in denen ich um Mut ringe: wenn ich vor einer wichtigen Entscheidung stehe, wenn ich einem Gespräch ausweiche oder mit meiner Meinung hinterm Berg halte, weil sie nicht gut ankommen würde.
Denn genau das ist Mut: Wenn ich trotz und mit meiner Angst etwas wage, weil ich es als richtig erkannt habe. Mut ist, wenn anderes wichtiger wird als meine Angst.
SN: Sie schreiben, Selbstvertrauen lasse sich nicht erzwingen, es könne nur wachsen. Was ist Ihre wichtigste Übung dazu?
Ich versuche, mich täglich an meinen zwei Grundsätzen zu orientieren. Erstens: „Nur wenn du regelmäßig innehältst, findest du Halt in deinem Innern und kannst ein beherztes Leben führen.“Und zweitens: „Tue immer das, wovor du ein wenig Angst hast.“Denn mutig werden wir in dem Maß, in dem wir – Tag für Tag in kleinen Schritten – mutig handeln. Das funktioniert wie bei der Muskulatur: Wird ein Muskel genutzt, gewinnt er Kraft.
SN: Sie laden dazu ein, sich öfter einmal eine „mutige Erlaubnis“zu geben. Wann haben Sie sich selbst zuletzt eine solche gegeben? Und was war das Mutige daran?
Ich gebe mir hier und jetzt eine mutige Erlaubnis: indem ich mir erlaube, Ihre Frage nicht zu beantworten. Ohne dies näher zu begründen.
SN: Was bedeutet der Satz in Ihrem Buch: „Unsere tiefste Angst ist, dass wir über alle Maßen kraftvoll sind“?
Der Satz klingt aufs Erste überraschend. Aber mir begegnen viele Menschen – und zwar vor allem Frauen –, die Angst davor haben, sich in ihrer vollen Größe zu entfalten. Die davor zurückscheuen, sich selbst zu behaupten. Das hat auch mit klassischen Rollenbildern zu tun, die nach wie vor wirksam sind. Es tut mir weh, wenn Frauen sich von althergebrachten Erwartungsmustern ausbremsen lassen. Denn der Welt – und das heißt: uns allen – und ihnen selbst geht Einmaliges und Entscheidendes verloren.
SN: Sie zitieren den Mystiker Johannes Tauler mit dem Gedanken, dass wir uns gern mit Bären- und Ochsenhäuten umgeben, weil wir befürchten, verletzlich zu sein, wenn wir uns zu sehr öffnen. Was ist guter Selbstschutz?
Leben verletzt. Und daher schulden wir es unserer Verwundbarkeit und Selbstachtung, dass wir uns schützen. Zugleich kann sich das Streben nach Sicherheit verselbstständigen. Und dann behindert es Wachstum und Entfaltung. Etwa wenn ich nur das tue, was ich bereits gut kann, und von allem anderen die Finger lasse, um mir nicht die Pfoten zu verbrennen. Oder wenn ich die „Zentralverriegelung Angst“dauerhaft aktiviere, denn dann schiebe ich allen tieferen Beziehungen einen Riegel vor.
Darin liegt für mich die überraschendste Einsicht in meiner Beschäftigung mit dem Thema Mut: Verletzlichkeit steht am Ursprung unserer vitalsten Erfahrungen. Es ist dieselbe weiche Seite am Menschen, der nicht nur Trauer und Schmerz entspringen, sondern auch Liebe und Zugehörigkeit, Freude und Solidarität. Denn ganz gleich, ob man jemanden über alles liebt, man sich zu sich selbst bekennt oder für eine Sache leidenschaftlich kämpft – in all diesen Situationen macht man sich berührbar und verwundbar.
SN: Die Innenwelt zu öffnen erfordert viel Vertrauen. Was tun, wenn dieses enttäuscht oder gar missbraucht wird?
Drei kurze Hinweise: eine gute Streitkultur einüben. Zweitens: sich nicht wie ein einsamer Wolf zurückziehen nach dem Motto „Alle Menschen sind Gauner!“, sondern Beziehungen und Freundschaften pflegen; dann kann Vertrauen neu aufkeimen. Und schließlich: einen Weg der inneren Aussöhnung damit gehen, dass einem diese schmerzliche Geschichte widerfahren ist.
SN: Warum kann es trotz Enttäuschungen ratsam sein, dem anderen vom eigenen Gefühls- und Gedankenkino zu erzählen?
In Freundschaften und Partnerschaft vergessen wir oft: Für den anderen ist unsichtbar, was uns durch Herz und Kopf geht. Das bedeutet: Allein in dem Maß, in dem wir unsere Innenwelt sichtbar machen, kann Nähe entstehen. Und Nähe schwindet, wenn wir innerlich zumachen, wenn wir verbergen, was in uns vorgeht und dass überhaupt etwas in uns vorgeht.
Ich rede damit nicht einer hemmungslosen Offenheit das Wort. Aber sobald es um eine tiefe Freundschaft oder eine Liebesbeziehung geht, gilt: Wenn die Beziehung lebendig bleiben soll, dann müssen wir bereit sein zu zeigen, was in uns vorgeht.