Alles geht von der Sprache aus
KARL HARB
Was lange währt, wird endlich gut. Gut zehn Jahre ist es her, dass der damalige Intendant der Zürcher Oper, Alexander Pereira, den ungarischen Komponisten György Kurtág einlud, eine Oper zu schreiben. Das Wagnis war von vornherein groß, gilt doch der zu den prägendsten Figuren der klassischen Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts zählende Meister als einer der skrupulösesten, penibelsten Arbeiter im Feld der zeitgenössischen Musik. Vornehmlich im Kleinen bis Fragmentarischen fand er zu seiner unverwechselbaren, aphoristisch zugespitzten, jede überflüssige Geste vermeidenden Tonsprache.
Und dann das: Kurtág fing schon früh Feuer an Samuel Beckett, einem anderen großen „Verweigerer“jedweden Erzähltheaters. Zufällig wohnte er 1957 der Pariser Erstaufführung des Vier-Personen-Stücks „Fin de partie“(Endspiel) bei, dieser grotesken Parabel auf alle Vergeblichkeit der Existenz. Blind im Rollstuhl sitzt der tyrannische „König“Hamm, der seinem Faktotum Clov jede Ruhe kategorisch verweigert, ihn drangsaliert und peinigt: Herr und Knecht. Daneben stecken Hamms Eltern Nagg und Nell bewegungslos in Mülltonnen. Sie haben bei einem Unfall ihre Beine verloren. So banal, so sinnlos, so absurd spielt das Leben.
Das wollte György Kurtág in einem Großwerk in Töne setzen, mit Klängen umgeben, durch Klänge zu einem anderen „Sagen“bringen. Nach und nach arbeitete er sich in das französische Original (und die französische Sprache) ein und verfolgte als einzig mögliches Ziel, Becketts gesamten Text ohne jeden Strich zu „vertonen“. Was nun, nachdem die Premiere schon für 2013 bei den Salzburger Festspielen ins Auge gefasst worden war, dann Jahr um Jahr verschoben werden musste, um endlich an Pereiras aktueller Wirkungsstätte, der Mailänder Scala, ans Bühnenlicht zu kommen, immer noch bedeutet, dass der mittlerweile 92-jährige Kurtág nach eigenem Bekunden erst knapp 60 Prozent des Textes zur Operngestalt gemacht hat. Aber er hat nach langen Mühen immerhin diesen Teil als „Szenen und Monologe“zur Uraufführung freigegeben. Sie fand am Donnerstag unter größtmöglicher Resonanz aus Kunstwelt und Politik (sogar der ungarische Ministerpräsident war angereist) statt und mündete nach zwei fordernden, intensiven pausenlosen Stunden in langen Beifall.
Was also ist jetzt in Mailand zu erleben? Auf alle Fälle keine Oper. Das verhindern schon die im Text grundgelegten monomanisch-abstrakten Sprechakte. Kurtág gliedert sie in dreizehn Szenen, wobei gewichtige, lange Monologe vor allem des bewegungslosen Hamm – Frode Olsen leistet schier Übermenschliches allein in der Merkfähigkeit – von prägnanten Dialogszenen durchschnitten sind. Hier zeigen vor allem Nell (Hilary Summers mit gläsern durchscheinendem, nachgerade körperlosem Mezzo) und Nagg (der so brillante wie vokal agile Buffotenor Leonardo Cortellazzi) in ihren Mülltonnen gleichsam stillvergnügte Komik erinnerten Glücks.
Die melodischen Linien, immer wieder expressiv gezackt (davon lebt vor allem die Knechtsfigur des Clov, dem Leigh Melrose entsprechende Kontur gibt), oft von weiten Intervallsprüngen gekennzeichnet, folgen dem Muster des Sprechgesangs, bewegen sozusagen die Worte im und durch den Mund der Sänger. Genau das ist das Essenzielle dieser Partitur, so weit sie sich mit dem ersten Hören erschließen mag: Alles geht von der Sprache aus, wird vom Klang der Worte hergeleitet.
Tonsplitter, Akkordtropfen, melodische Abbreviaturen in oft nur minimaler Bewegung und vor allem ausgefeilte, nicht auszuhörende, je länger je mehr nachgerade süchtig machende Raffinessen der Instrumentation fallen in die – minutiös auskomponierte – Stille, die für sich einen ganz eigenen Klangraum auftut. Wer sich ihm hörend öffnen mag, dem offenbaren sich Zauberdinge an sublimsten, filigransten, manchmal auch deftigeren Schönheiten. Dass man im großen Auditorium der Scala das Gefühl haben durfte, ganz intim beim Öffnen dieser klingenden Schatzkästlein dabei zu sein, war das Verdienst des auf subtilste Weise groß aufspielenden Orchesters und seines phänomenal souveränen Dompteurs am Pult, Markus Stenz.
Dass sich die Regie von Pierre Audi an das Szenario Becketts hält und dennoch mit dem blausilbrig schimmernden Gehäuse (Szene: Christof Hetzer, Licht: Urs Schönebaum), das wie eine Zwiebel mehrere (Schatten-)Schalen hat, einen eigenen Akzent setzt, wirkt so wohltuend zurückhaltend wie poetisch eigensinnig. Kein, wie sonst oft bei Audi, gefälliges Dekor also, so wenig wie es in der Musik eine überflüssige Note gibt, auch keine selbstgefällige Illustration, keine vordergründige Tonmalerei, keinen leeren Effekt. György Kurtág hat endgültig sein Lebenswerk vorgelegt. Es ist offen, da ja noch 40 Prozent fehlen. An ihnen schreibt Kurtág unermüdlich weiter. Aber dieses „Endspiel“ist trotzdem schon jetzt: vollendet. Oper: