Slums mitten in einer EU-Hauptstadt
In Osteuropa fristen Millionen Roma ein gleichermaßen würde- wie chancenloses Dasein. Besonders dramatisch ist die Situation in Sofia. Die SN begaben sich auf eine spannende Spurensuche und erlebten einige Überraschungen.
Petr steht vor einem Verschlag aus Pressspanplatten, Wellblech, Kartonagen und Ziegelbruch. Beißender Brandgeruch liegt in der Luft. Den Fäkaliengestank vermag er dennoch nicht gänzlich zu überlagern. In dem Verschlag sitzen acht Kinder. Der älteste Sohn ist 17, das Baby wurde gerade vier Monate alt. Neben Petr steht seine Frau. Die beiden könnten Anfang 30 sein. Oder Ende 40. Ihre ausgemergelten Gesichter und geschundenen Körper lassen eine Schätzung nicht zu. Der Fernseher läuft. Irgendeine Vormittagsserie. Überall sind Fliegen. Draußen taucht die Sonne den sich türmenden Unrat in kräftiges, spätherbstliches Licht. Man hört die Kinder, die auf den Schutthalden herumtollen. Sie stauben und husten und spielen ausgelassen, sie haben Flöhe und Augenkrankheiten.
Auf einer zwei Kilometer langen, schlauchförmigen Brache siedeln rund 2000 Roma. Die Mahala, was ungefähr so viel heißen soll wie „Nachbarschaft“, liegt mitten in der bulgarischen Hauptstadt Sofia, im Stadtteil Zaharna Fabrika – zu Deutsch: Zuckerfabrik. Petr und seine Familie leben in einem Slum der übelsten Sorte. Seit Generationen. Seine Großeltern wurden schon hier geboren. Und sind auch hier gestorben.
Hie und da kommen Bagger der Stadtverwaltung vorbei und reißen einen Teil der Baracken ein. Zur Abschreckung. Denn die Roma von Zaharna Fabrika siedeln ohne Genehmigung. Es gibt keine Kanalisation. Fließwasser und Strom werden angezapft. Andreas Tröscher berichtet für die SN aus Bulgarien
Petr will nicht, dass seine Kinder so aufwachsen. Doch eine Wahl hat er kaum. Als Straßenkehrer verdient er ein bisschen Geld. Schreiben und lesen können in seinem Alter die wenigsten. Er hat seine Familie für eine Gemeindewohnung angemeldet. Bekommt er sie zugewiesen, geht der Spießrutenlauf erst los. Denn außerhalb der Mahalas sind Roma gesellschaftliches Freiwild. Sie werden angefeindet und gemieden. Niemand will sie in seiner Nähe haben.
Sofia, die Millionenstadt. Eine trügerische Boom-Town. Der Zuzug ist enorm. Jobs gibt es in Hülle und Fülle. Vor allem am IT-Sektor. Doch die gut ausgebildeten Jungen suchen ihr Glück lieber im Ausland. Die Mieten steigen dennoch. Die Löhne nicht. Viele Sofioter kämpfen sich mehr schlecht als recht durch den Alltag. In diesem Spannungsfeld wagt es kein Politiker, das „heiße Eisen“Roma-Problematik anzufassen. Heißt: Wer Sympathie für sie zeigt, wird abgewählt.
Die Mahala von Zaharna Fabrika gehört zu den kleineren RomaSiedlungen Sofias. In der größten, Fakulteta, leben etwa 50.000 Menschen. Rund ein Zehntel der bulgarischen Bevölkerung sind Roma, also 700.000. Ihr Dasein ist geprägt von Armut, Krankheit, Analphabetismus, Arbeitslosigkeit, Depression und Alkohol. Man schätzt, dass in Osteuropa und auf dem Balkan mindestens zehn Millionen Roma unter diesen Umständen dahinvegetieren.
Ortswechsel: Knapp zwei Kilometer Luftlinie von der Roma-Siedlung im Stadtteil Zuckerfabrik steht Georgi Iliev auf einem holprigen Fußballfeld und blickt, die Arme verschränkt, selbstbewusst in die Kamera. Am Rücken seines T-Shirts steht „Messi“– der Weltstar ist sein großes Vorbild. Im August belegte Georgi mit der Bulgarischen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft für Kinder aus Risikofamilien (SATUC) in Sofia den dritten Platz. Im Halbfinale war Endstation: Niederlage gegen den späteren Sieger Nigeria. Georgi wurde Torschützenkönig des Turniers.
Drei Mal pro Woche hat der 16Jährige Training, und er besucht die neunte Klasse eines Gymnasiums. In drei Jahren wird er, falls nichts dazwischenkommt, maturieren. Apropos: Georgi gehört ebenfalls zur Roma-Minderheit. Der Klub, mit dem er mittlerweile Meisterschaftsspiele in der Jugendliga bestreiten darf, heißt Concordia, genauso wie die österreichische Hilfsorganisation, die in Sofia an mehreren Standorten Sozialzentren betreibt. Auch Georgi stammt aus einer Mahala. Als er acht Jahre alt war, gab die Mutter ihn und seine Geschwister bei der Nachbarin ab und verschwand spurlos. Der Vater saß zu diesem Zeitpunkt bereits im Gefängnis. Gemeinsam mit Schwester Mitka (14) landete er im Sozialzentrum Sveti Konstantin. Dort bekam sein Leben weit mehr als nur Struktur. Im Endeffekt wurde Georgi in jemanden verwandelt, der eine realistische Chance hat. Sei es als Profifußballer, als Student oder als Angestellter.
„Georgi hat durch Concordia jemanden, der ihm den Rücken stärkt. Aber er wird sich beweisen müssen“, sagt Markus Inama. Der 56-jährige Jesuitenpater ist Vorstandsmitglied bei Concordia. Er hat das Projekt Sveti Konstantin 2009 ins Leben gerufen. Das desolate Fabrikgebäude mutierte unter seiner Ägide zu einem freundlichen, farbenfrohen Anlaufpunkt für sozial benachteiligte Menschen. Man kann Grundbedürfnisse wie Essen oder Duschen befriedigen. Es gibt Beratung und Betreuung, Ansprache und Zerstreuung. „Zu uns kommen Kinder, die zuvor noch nie einen Buntstift in der Hand hatten“, berichtet Inama. Das Aufholen kognitiver Defizite ist eines der großen Ziele im Sozialzentrum. Darum bemüht man sich schon um die Kleinsten, leistet Überzeugungsarbeit bei den Müttern.
Pater Markus Inama bringt es auf den Punkt: „Um die Probleme dieser Menschen zu lösen, gibt es keine andere Möglichkeit, als sich ihrer anzunehmen.“Wenn er über die Lage der Roma spricht, fällt häufig das Wort „draußen“. Draußen seien sie unerwünscht, draußen gälten sie als der letzte Dreck, draußen müsse man sich doppelt und dreifach anstrengen, um es zu schaffen. Und draußen bliebe vielen Roma nichts anderes übrig, als ihre Herkunft zu verleugnen. Gelingt dies, droht wiederum die Verbannung aus den eigenen Reihen. Wer das nicht will, dem bleibt nichts anderes übrig, als in die Mahala zurückzukehren.
Concordia stemmt sich mit sanftem Druck gegen diese Entwicklung. Wer in der Mahala bleiben möchte, soll bleiben. Aber er soll auch wissen, dass er jederzeit vorbeikommen kann. Und sei es nur zum Plaudern. Oder zum Töpfern. Oder zum Kerzengießen. Härtefälle wie Georgi, die weder Vater noch Mutter haben, dürfen im Sveti Konstantin sogar wohnen.
Ein weiterer Baustein der Concordia-Hilfsprogramme ist ein angemietetes Friseurgeschäft in einem ganz normalen Wohnviertel. Dort schupft der 24-jährige Bozhidar den Laden. Auch er und seine zwei Lehrmädchen sind Roma. Wenn Bozhidar schneidet, kostet ein Haarschnitt zehn Lewa (fünf Euro), wenn die Lehrlinge ans Werk gehen, drei Lewa (1,50 Euro). Die Preise sind günstiger als anderswo, der Umsatz steigt monatlich.
In der Mahala Zaharna Fabrika wird es langsam düster. Katzen turnen über die Dächer der Verschläge, Hunde bellen ängstlich aus ihren Verstecken. Drei junge Frauen machen sich auf den Weg. Mit dem Bus fahren sie nach Sveti Konstantin. Es ist Donnerstag, da ist offene Tür im Sozialzentrum. Die drei sind gut gelaunt. Sie freuen sich auf Gespräche, die Dusche, das Essen und die kleine Andacht mit Pater Markus. Wenn sie sich wieder auf den Heimweg machen, werden sie etwas mit im Gepäck haben: Zuversicht.