Theresa May steht vor einer Zitterpartie
Ob die Brexit-Hardliner bei den Tories genug Stimmen sammeln, um ein Misstrauensvotum zu erzwingen, ist aber fraglich.
LONDON. Sir Graham Brady hat seit Tagen keine ruhige Minute. Ob im politischen Westminster oder an der Supermarktkasse, der konservative Abgeordnete wird unaufhörlich belagert mit einer Frage, die mittlerweile das ganze Königreich beschäftigt: Wie viele Briefe hat er bisher erhalten?
Brady sitzt dem Komitee der Tories vor, das über ein Misstrauensvotum gegen die britische Premierministerin Theresa May entscheidet. Um einen entsprechenden Antrag zu stellen, müssen sich 15 Prozent der konservativen Abgeordneten schriftlich bekennen, was übersetzt auf 48 Briefe hinausläuft. Wie viele bereits eingegangen sind, gilt derzeit als das bestgehütete Geheimnis auf der Insel, was vor allem daran liegt, dass Graham Brady es selbst hütet.
Nicht einmal seine Frau sei eingeweiht, verriet er.
Doch ob es wirklich zum Aufstand der Brexit-Hardliner um den erzkonservativen Superstar der EUHasser, Jacob Rees-Mogg, kommt, ist noch immer ungewiss. Herrschte am Ende viel Lärm um nichts? Etliche Konservative sind ohnehin überzeugt, dass May eine Abstimmung innerhalb der Fraktion gewinnen würde. Mehr noch: Da ein Misstrauensvotum nur ein Mal pro Jahr stattfinden kann, wäre ihre Position gefestigt, so Brady.
Die Regierungschefin zeigt sich von Zahlenspielen bis jetzt unbeeindruckt. Sie kämpft nicht nur um ihr politisches Überleben, sondern nach mehreren Rücktritten in ihrem Kabinett vor allem für das von Brüssel und London ausgehandelte Austrittsabkommen. Fernsehinterviews, Auftritte, Reden, Zeitungsartikel – May wirbt für den 585-seitigen Kompromiss, der ihrer Ansicht nach den „bestmöglichen Deal“darstellt. Am Montag versuchte sie es beim britischen Industrieverband CBI und versprach dabei ein neues Einwanderungssystem, das sich laut May nach den Fähigkeiten der Bewerber richten wird und nicht danach, woher die Menschen stammen. Künftig könnten sich EUBürger nicht mehr „in der Schlange vordrängen vor Ingenieure aus Sydney oder Software-Entwickler aus Delhi“. Ihre harschen Worte stießen auf Kritik, unter anderem bei der Initiative „the3million“, die sich für die Rechte von in Großbritannien lebenden EU-Bürgern nach dem Brexit einsetzt.
Mehrere EU-skeptische Minister fordern derweil, dass Theresa May nach Brüssel zurückkehrt, um den Deal nachzuverhandeln. Insbesondere der im Entwurf festgelegte „Backstop“weckt Widerstand. Es ist eine Rückfallversicherung, die im Notfall gewährleisten soll, dass es nach der Übergangsphase keine harte Grenze zwischen der Republik Irland und der zum Königreich gehörenden Provinz Nordirland gibt, und deshalb vorsieht, dass das ganze Land in der Zollunion bleibt, bis eine andere Lösung gefunden wird. Die Brexiteers fordern dagegen ein einseitiges Kündigungsrecht. Wegen des umstrittenen „Backstops“war vorige Woche Brexit-Minister Dominic Raab zurückgetreten, der nun May vorgeworfen hat, schwach verhandelt zu haben: Sie habe der EU nicht glaubwürdig damit gedroht, notfalls ohne Deal auszuscheiden. In Brüssel seien „dunkle Mächte“am Werk, doch Großbritannien werde sich nicht „bestechen oder erpressen oder drangsalieren lassen“.
Kritik kam zudem von der Opposition. Labour-Chef Jeremy Corbyn kündigte an, gegen den Entwurf zu stimmen, aber realistische Vorschläge, wie die Sozialdemokraten einen EU-Austritt bewerkstelligen würden, lieferte auch der lebenslange Europaskeptiker Corbyn nicht.
Gespräche um die Austrittsbedingungen abermals aufzunehmen, das lehnen ohnehin sowohl die Premierministerin als auch die EU ab. Vielmehr wollen beide Seiten bei einem Brexit-Sondergipfel am Sonntag den Deal beschließen und eine politische Erklärung zum künftigen Verhältnis zwischen dem Königreich und der EU präsentieren. Der eigentliche Deal soll in der Übergangsphase, die nach dem Austritt am 29. März 2019 beginnt, verhandelt werden. Die größte Hürde für May besteht darin, dass der Entwurf vom Unterhaus gebilligt werden muss. Mit einer Abstimmung wird Anfang Dezember gerechnet – gesetzt den Fall, Sir Graham Brady lüftet nicht sein Schweigen, weil 48 Briefe eingetroffen sind.
„In Brüssel sind offensichtlich dunkle Mächte am Werk.“Dominic Raab, Ex-Brexit-Minister