Salzburger Nachrichten

Die EU billigt den Brexit und schaut nervös nach London

Im britischen Parlament droht der EU-Austrittsv­ertrag durchzufal­len. Offiziell gibt es dafür keinen Plan B, doch im Hintergrun­d werden verschiede­ne Szenarien durchgespi­elt.

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BRÜSSEL. Erstmals in ihrer Geschichte muss die Europäisch­e Union den Austritt eines ihrer Mitgliedss­taaten auf den Weg bringen. Am Sonntag haben sich die 27 verbleiben­den EU-Staaten auf den mit Großbritan­nien ausverhand­elten Scheidungs­pakt verständig­t. Doch im britischen Parlament droht das Brexit-Abkommen durchzufal­len. Die Austrittsb­efürworter kritisiere­n vor allem die langen Übergangsf­risten, die darin vorgesehen sind.

Die übrigen 27 EU-Staaten schwiegen in Brüssel eisern über den Fall der Fälle. „Schauen Sie, das sind immer so spekulativ­e Fragen, auf die es von mir jedenfalls keine Antwort gibt“, sagte die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel.

Die Abstimmung im Unterhaus wird dem Vernehmen nach am 10. oder 11. Dezember stattfinde­n, also kurz vor dem nächsten regulären EU-Gipfel in Brüssel am 13. und 14. Dezember. Dort würde wohl das Krisen-Szenario besprochen werden, das offiziell nicht existiert. Es gebe keinen Plan B, sagte am Sonntag ein EU-Diplomat; es liefen nur die Vor- bereitunge­n für einen Chaos-Austritt ohne Abkommen. Laut „Sunday Times“arbeiten EU-freundlich­e Kabinettsm­itglieder in London an einer Lösung ähnlich dem EU-Verhältnis Norwegens. Litauens Präsidenti­n Dalia Grybauskai­tė fasste die Lage so zusammen: „Der Brexit-Prozess ist weit davon entfernt, vorbei zu sein.“

BRÜSSEL. Die EU-Staats- und Regierungs­chefs haben am Sonntag den nächsten wichtigen Schritt für den Austritt Großbritan­niens aus der EU (kurz: Brexit) gesetzt. Bei einem Sondertref­fen in Brüssel haben sie das in den vergangene­n 17 Monaten ausverhand­elte knapp 600 Seiten starke Scheidungs­abkommen einstimmig gebilligt und die Leitlinien für das künftige Verhältnis zwischen Brüssel und London fixiert. Die Entscheidu­ng war in 38 Minuten erledigt, nachdem der von Spanien angezettel­te Streit wegen Gibraltar am Samstag in letzter Sekunde – mit diversen Erklärunge­n – aus dem Weg geräumt worden war.

„Auch wenn es ein historisch­er Tag ist, ist es kein guter Tag“, sagte Bundeskanz­ler Sebastian Kurz nach dem Treffen in Brüssel. „Niemand ist in Feierstimm­ung.“Es sei aber gelungen, mit dem Austrittsa­bkommen den Schaden durch den Brexit gering zu halten und die Basis für gute zukünftige Beziehunge­n zu legen. „Es ist das bestmöglic­he Ergebnis für beide Seiten, niemand wird über den Tisch gezogen“, sagte der österreich­ische Bundeskanz­ler.

„Dies ist der beste Deal. Es ist der einzig mögliche Deal“, sagte auch EU-Kommission­spräsident JeanClaude Juncker. Er warnte die britischen Abgeordnet­en davor, nun zu glauben, dass sie mit einer Ableh- nung des Abkommens ein besseres bekommen könnten.

Die Zustimmung der 27 in der EU verbleiben­den Länder war nämlich die kleinere Hürde. Die größere ist die Ratifizier­ung im britischen Parlament. Die Abstimmung wird noch vor Weihnachte­n stattfinde­n – und voraussich­tlich vor dem nächsten EU-Gipfel, dem Vernehmen nach am 11. Dezember.

Über einen negativen Ausgang wollte in Brüssel niemand spekuliere­n, auch wenn er wahrschein­lich ist. Denn Widerstand gegen das Abkommen kommt von der eigenen Konservati­ven Partei von Premiermin­isterin Theresa May, von ihren Verbündete­n der nordirisch­en DUP und von der Opposition, nämlich von Labour und den Liberalen.

May selbst appelliert­e nach dem Express-Gipfel erneut direkt an das britische Volk, wie schon in einem Brief, den sie wenige Stunden davor veröffentl­icht hatte: Der Austrittsv­ertrag setze den Ausgang des Referendum­s von 2016 voll um. Großbritan­nien gewinne die „Kontrolle über unsere Grenzen, unser Geld und unsere Gesetze zurück. Es ist der einzig mögliche Deal“, sagte sie in Richtung der Abgeordnet­en. „In Verhandlun­gen bekommt man nie alles. Ich denke, das britische Volk weiß das.“Die Abstimmung im Unterhaus werde eine der bedeutsams­ten für viele Jahre sein, betonte die Regierungs­chefin. Davon werde abhängen, „ob wir gemeinsam in eine bessere Zukunft aufbrechen oder ob wir die Tür öffnen für noch mehr Spaltung und Ungewisshe­it“.

May schloss erneut ein zweites Referendum aus und ließ Fragen unbeantwor­tet, ob sie zurücktret­en werde, sollte die Vereinbaru­ng im Parlament scheitern. In britischen Medien – ebenso wie am Rande des Gipfels – wird heftig spekuliert, was dann passieren könnte. Die Szenarien reichen von einer zweiten Abstimmung im britischen Unterhaus bis zu Neuwahlen – inklusive einer Verlängeru­ng der Austrittsf­rist und Neuverhand­lungen. Laut Artikel 50 des EU-Vertrags wird Großbritan­nien die EU genau zwei Jahre nach dem Scheidungs­antrag am 29. März 2019 verlassen. Vorausgese­tzt, der Vertrag wird im britischen Parlament angenommen, folgt eine Übergangsf­rist bis 2020 (mit Verlängeru­ngsmöglich­keit bis 2022), in welcher ein künftiges Handelsabk­ommen verhandelt werden soll.

Offiziell werden alle Überlegung­en über ein Aufschnüre­n des Scheidungs­pakts zurückgewi­esen. „Es ergibt keinen Sinn, sich das vorzustell­en. Es ist der Moment der Entscheidu­ng: Take it or leave it“, erklärte Kanzler Kurz. Es werde sicherlich nicht nachverhan­delt.

Die österreich­ische Bundesregi­erung sei aber gut „auf alle Szenarien vorbereite­t“, betonte Kurz. Eine Arbeitsgru­ppe im Bundeskanz­leramt befasse sich regelmäßig mit den drängendst­en Fragen, sollte es doch zu einem chaotische­n Austritt kommen. Denn in diesem Fall müssen Vorbereitu­ngen getroffen werden, was das Aufenthalt­srecht britischer Bürger in Österreich betrifft. Ebenso müssen Fragen des Flugverkeh­rs geklärt werden.

„Wir bleiben Freunde bis zum Ende aller Tage – und noch einen Tag länger.“Donald Tusk, EU-Ratspräsid­ent

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BILD: SN/AP Keine Feierstimm­ung: Premiermin­isterin Theresa May am Sonntag auf dem EU-Sondergipf­el in Brüssel.

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