„Überrannt hat uns hier keiner“
Sie rennen uns die Grenze ein: So hat sich das Jahr 2015 bei vielen Österreichern ins Gedächtnis eingebrannt. Wie erlebten die Einsatzkräfte die Situation an der Grenze? Ein Helfer erinnert sich an den Dauereinsatz – und die gefühlte Hilflosigkeit.
ein ungarischer Kühllastwagen mit 71 toten Flüchtlingen entdeckt worden war.
Insgesamt haben im Jahr 2015 rund 300.000 Menschen die Grenze im Burgenland überquert, 90 Prozent davon in Nickelsdorf. Am intensivsten Tag sind innerhalb von 24 Stunden rund 20.000 Flüchtlinge in der 1000-Seelen-Gemeinde angekommen. Tobias Mindler war hautnah am Geschehen. Der 38-Jährige ist Pressesprecher des burgenländischen Roten Kreuzes. Im September 2015 erschien sein Gesicht in unzähligen Fernsehsendungen auf der ganzen Welt. Drei Monate lang war er fast täglich im Dauereinsatz. Zeit zum Nachdenken hatte er in dieser Phase keine. „Man funktionierte einfach nur“, sagt er rückblickend im Gespräch mit den SN. „Gewisse Szenen gehen mir aber natürlich nie wieder aus dem Kopf“, erinnert sich Mindler.
Die Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 war für das Rote Kreuz ein logistischer Kraftakt. Eine vergleichbare Herausforderung hatte es zuletzt 1956 während der Ungarnkrise gegeben. Damals flohen innerhalb weniger Wochen rund 180.000 Ungarn über die Grenze ins Burgenland. Entscheidend bei so vielen Menschen ist das sogenannte Crowd-Management – ein Leitsystem, das vorsieht, wie sich die Menschen über das Gelände bewegen. „Wir wussten aber nie genau, wie viele kommen“, erzählt Tobias Mindler. Außerdem habe man unmittelbar gespürt, was auf der weltpolitischen Bühne vor sich gegangen sei: „Wenn Deutschland erst einmal keine Flüchtlinge mehr reingelassen hat, haben wir den Rückstau sofort bemerkt. Das war ein Dominoeffekt.“
Dennoch sagt Mindler heute: „Wir waren überrascht, wie gut die Stimmung vor Ort war. Der Großteil der Menschen war entspannt. Obwohl es sich um einen komplett anderen Kulturkreis handelt, hatten wir keinerlei Probleme bei der medizinischen Versorgung. Auch die Kolleginnen nicht.“
Erschreckend sei jedoch gewesen, in welchem Zustand sich die geflüchteten Menschen befunden hätten – körperlich und psychisch. Viele seien traumatisiert gewesen, erinnert sich Mindler. „Während der Behandlung schauten sie teilnahmslos in die Leere. Zuwendung war unsere wichtigste Medizin. Die Leute waren dafür ausgesprochen dankbar.“
Was geht im Kopf eines Helfers vor, wenn er solche Szenen Tag für Tag miterlebt? „Bis zu einem gewissen Grad waren wir professionalisiert, oder abgestumpft, oder wie man es nennen möchte“, sagt er und zögert kurz. „Aber ich war jeden Tag unglaublich dankbar, dass ich zu Hause eine warme Wohnung hatte. Ich habe in diesen Wochen so viele interessante Menschen getroffen – ehemalige UNO-Mitarbeiter, Professoren oder andere Menschen, die in ihrem Leben alles richtig gemacht haben. Und jetzt saßen sie hier. Von heute auf morgen hatte sich ihr Leben schlagartig geändert.“
Tobias Mindler und seine Kollegen konnten unzähligen Menschen mit den kleinsten Dingen Freude bereiten. Dennoch machte ihnen Tag für Tag ein Gefühl der Hilflosigkeit zu schaffen. Das frustriert: „Wir haben gewusst: Wir können hier etwas tun. Aber nicht mehr als das. Wir hatten keinerlei Einfluss darauf, was international passiert. Die Möglichkeiten des Einzelnen waren begrenzt.“
Allein im September und Oktober leisteten die ehrenamtlichen Helfer des Roten Kreuzes mehr als 54.000 Arbeitsstunden im Burgenland. Was nach diesen intensiven Wochen blieb, waren Erinnerungen. Unter dem Titel „Grenzerfahrungen“hat das Rote Kreuz die Erlebnisse in einem Buch verewigt, das 2016 erschienen ist. Darin berichten die Helfer unverhohlen, ehrlich und bewegend, was sich an der Grenze abgespielt hat. So liest man im Buch etwa von jungen Müttern, die erschöpft zusammenbrechen, weil sie wissen, dass ihre Kinder nun in Sicherheit sind. Man liest von Kindern, die nicht mehr weinen, weil sie schon seit Monaten auf der Flucht sind. Und man liest von Gesprächen, die berühren, ohne dass ein einziges Wort in einer gemeinsamen Sprache gesprochen wird.
Glaubt man manchen Schlagzeilen, spielten sich im Herbst 2015 ganz andere Szenen ab. Nicht nur im Netz, auch in manchen Medien wurde das Bild einer ungestümen Menschenmasse verbreitet. Einer Menschenmasse, die uns die Grenzen einrannte. War es tatsächlich so? „Dieses Bild stimmt nicht. Überrannt hat uns niemand“, betont Tobias Mindler. „Das ist dem verantwortungslosen Verhalten von Politikern geschuldet. Allein schon die Begriffe, die verwendet wurden, haben impliziert, dass etwas ganz Böses auf uns zukommt. Es war die Rede von einer Krise, einem Ansturm, einer Welle“, zählt Mindler auf und erklärt: „Natürlich wirkt es bedrohlich, wenn sich eine Masse an Menschen in Bewegung setzt, wie wir es anfangs auf der Autobahn hatten. Aber das kann auch geordnet funktionieren.“
„In einer solchen Zeit funktioniert man einfach nur.“