Kulinarischer Gottesdienst
Zu Gast im Bauernschloss. In Maishofen wird eine Bewirtung gepflegt, die vom Aussterben bedroht ist.
Wir würden jetzt liebend gern das gekochte Kalbfleisch mit Wurzelgemüse und Kren über den grünen Klee loben. Aber uns fehlen nicht nur die Worte – wir sind überhaupt sprachlos. Denn vor lauter leisen und andächtigen Kaubewegungen bringen wir keinen Ton hervor. Willkommen im Schloss Kammer. Heute dürfen wir am Küchentisch Platz nehmen. Von dort aus haben wir eine gute Aussicht auf Gertraud Neumayer. Auf dem Herd lodern kleine Gasflammen und ihre flinken und fließenden Bewegungen machen neugierig, welches Küchenwerkzeug sie als Nächstes zur Hand nimmt. Nebenbei sind wir noch mit dem Kauen beschäftigt. Wir denken, das wäre eigentlich überflüssig. Denn das Kalbfleisch ist so zart, dass es am Gaumen mit dem frisch geriebenen Kren und dem Wurzelgemüse zu einem kulinarischen Erweckungserlebnis verschmilzt. In dieser Qualität kriegt dieses Gericht nur ein Koch hin, der über Zugang zu Gertraud Neumayers Kälbern verfügt. Geschlachtet werden sie, wenn sie ein Gewicht von 150 bis 180 Kilogramm haben. „Da ist das Fleisch am besten“, sagt Gertraud. Die Rinder des Kammererbauern werden auf der Alm gehalten. Jeden September ist Abtrieb. Da geht es dann vom Sulzbachtal in Fusch über eine Strecke von 27 Kilometern bis zum Maishofener Schloss Kammer. Kammererbauer und Schloss Kammer – ein Gegensatz? Mitnichten. Zwar befindet sich das Gut und Gasthaus der Neumayers in einem ehemaligen Schloss. Aber dieses Schloss gibt es nur, weil die Neumayers seit mehr als 200 Jahre hart darin arbeiten.
Anita, Gertrauds Schwiegertochter, putzt derweil den Küchenherd. „Ich könnte diesen Herd nie gegen einen Induktionsherd austauschen“, sagt Gertraud. Denn dann müsste sie auch ihre Pfannen und Töpfe austauschen. „Das Essen schmeckt dann nicht mehr so gut“, weiß sie. Diese Meinung teilte übrigens auch Paul Bocuse, der bei der Präsentation des ersten Induktionsherds mit folgender Bemerkung aus dem Rahmen fiel: „Eine Küche ohne Feuer ist wie eine Hure ohne Arsch.“
Im Flur und im ersten Stock des weitläufigen Gebäudes sind Staubsauger zu hören. Wer eine Putzbrigade vermutet, der ist auf dem Holzweg. Es sind zwei der vier Buben von Anita und Matthias jr., die fleißig mit anpacken. Im ersten Stock befindet sich sogar eine Schlosskapelle, die 1617 vom Bischof Johann Paulus Ciurletti geweiht wurde. Wer will, der kann sie nach einem himmlischen Mahl gern besuchen und Gott um Verständnis bitten: „Herr, ich habe gesündigt. Aber dieses Essen war es wert.“
Im Besitz der Familie Neumayer ist das Schloss seit 1812. Damals hat es Josef Neumayer um 4216 Gulden erworben. Heute wird das Haus in der achten Generation betrieben. Gertraud hat ihren Alois 1969 geheiratet: „Wir kannten uns schon länger. Aber gefunkt hat es erst beim Reiterball.“
Plötzlich Prinzessin auf der Erbse? Da muss sie lachen: „Der Zustand des Gebäudes war eine Katastrophe. Aber wir haben uns durchgeschlagen. Ständig gab es etwas zu renovieren.“
Jetzt macht sie noch zehn Eiswannen Rindfleischsulze. Ganz klassisch mit Erbsen, Karotten, Rindfleisch und Aspik. Neben der Rinderzucht haben die Neumayers auch eigene Schweine und Schafe. Geschlachtet wird am Hof. „Wir haben einen EU-Schlachthof, damit unsere Tiere in ihren letzten Stunden nicht noch sinnlos einen Stress bekommen“, sagt Gertraud.
In den letzten Minuten unseres Aufenthalts im Schloss Kammer kredenzt sie dann noch selbst gebrannten Vogelbeer-Schnaps. Er schmeckt, wie ein perfekter Vogelbeer schmecken muss: nach Marzipan. Auch Äpfel und Birnen erwachen in Gertrauds Destillerie zu recht lebhaften Geistern.
Zum Schluss zeigt uns die Schlossherrin noch, wie einfach Erdäpfelnidei zubereitet werden. In dieser Küche wird das Gemüse übrigens noch handgeschält. Das übernimmt ein afghanischer Flüchtling. Er wird gut bezahlt und hat Kost und Logis gratis – Familienanschluss sowieso.
Schön, dass es noch solche Orte gibt.