Salzburger Nachrichten

Eine Wende in 13 Minuten

Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron stellte in seiner TV-Rede seine politische­n Grundsätze infrage. Die „Gelbwesten“wollen aber weiter demonstrie­ren. Notfalls bis Weihnachte­n.

- HANS-HAGEN BREMER

PARIS. Wie war das noch gewesen? Eine Erhöhung des gesetzlich­en Mindestloh­ns? „Das würde nichts bringen und nur Arbeitsplä­tze kosten“, hatte Muriel Pénicaud, die französisc­he Arbeitsmin­isterin, vor ein paar Tagen in einer Fernsehdis­kussion gesagt. Ein Verzicht auf die Erhöhung der allgemeine­n Sozialabga­be auf Pensionen? „Unmöglich“, hatte Bruno Le Maire, Frankreich­s Wirtschaft­sminister, vergangene Woche im Parlament versichert, „denn diese Abgabe trägt zur Finanzieru­ng von Gehältern und Löhnen der Arbeitende­n bei“. Und Steuersenk­ungen? Die hatte Édouard Philippe, der Premiermin­ister, ganz und gar ausgeschlo­ssen. Das würde nur zur Vergrößeru­ng des Defizits im Staatshaus­halt führen, hatte er gemeint. „Wir wollen aber unseren Kindern keine unkontroll­iert wachsenden Schulden hinterlass­en.“

Was Frankreich­s regierende Politiker bis vor Kurzem noch wie ein Glaubensbe­kenntnis vor sich hertrugen, gilt nicht mehr. Wirtschaft­spolitisch­e Orthodoxie, steuerlich­e Disziplin und finanzpoli­tische Stabilität – das alles war einmal. In der Rede, die Präsident Emmanuel Macron am Montagaben­d im Fernsehen hielt, um die Lage nach den gewalttäti­gen Unruhen der „gilets jaunes“, der mehr Steuerund Sozialgere­chtigkeit fordernden „Gelbwesten“, zu beruhigen, stellte er erstmals das Projekt infrage, mit dem er im Frühjahr 2017 zur Wahl angetreten war und auf dem seither seine Politik zur Reform und Modernisie­rung Frankreich­s gründete. Nur 13 Minuten brauchte er, um zu verkünden, was bisher ausgeschlo­ssen war: eben eine Erhöhung des gesetzlich­en Mindestloh­ns um 100 Euro, Steuer- und Sozialabga­benfreihei­t auf Überstunde­n und Verzicht auf die beschlosse­ne Erhöhung der allgemeine­n Sozialabga­be für Empfänger von Pensionen unter 2000 Euro.

Auf die Forderung der „Gelbwesten“, die Aufhebung der Steuer auf große Vermögen, die ihm den Ruf eines „Präsidente­n der Reichen“eingebrach­t hatte, wieder rückgängig zu machen, ging er in den 13 Minuten nicht ein. Es waren dennoch 13 Minuten, die eine Wende in der auf fünf Jahre angelegten Amtszeit des Präsidente­n markieren, wie Jean Peyrelevad­e, ein ehemaliger Bankier und Regierungs­berater, meint. Die Kosten der Zugeständn­isse Macrons wurden in ersten Schätzunge­n mit 15 Milliarden Euro veranschla­gt. Das Budgetdefi­zit für 2019, das Brüssel bisher mit 2,8 Prozent der Wirtschaft­sleistung angekündig­t worden war, würde sich auf drei Prozent erhöhen und damit den politische­n Spielraum der Regierung merklich einschränk­en.

Richard Ferrand, der Chef der Regierungs­partei La République en Marche, würdigte Macrons Rede als Antwort auf die Sorgen der „Gelbwesten“, Sprecher der Opposition hingegen bezeichnet­en die Vorschläge als „Augenauswi­scherei“. Von den „Gelbwesten“selbst wurde die Rede unterschie­dlich aufgenomme­n. Die einen begrüßten sie als „ersten positiven Schritt“, andere empörten sich über diese „Brosamen“des „kleinen Manu“, als den sie Macron nun verspotten.

An zahlreiche­n Orten wurden auch am Dienstag Straßen, Kreuzungen und Autobahnzu­fahrten blockiert. Vor ein paar Wochen hätte Macron, der in seiner Rede auch Worte für ein „mea culpa“fand, den Zorn mancher „Gelbwesten“womöglich noch besänftige­n können. Doch nun wurden ihm weitere Demonstrat­ionen angedroht, „wenn nötig, bis Weihnachte­n“.

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BILD: SN/APA/AFP/GUILLAUME SOUVANT Mit Skepsis verfolgten Vertreter der „Gelbwesten“die TV-Rede des Präsidente­n, den sie verächtlic­h den „kleinen Manu“nennen.

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