Salzburger Nachrichten

Ein Leser kostet die Freiheit des Lauschens

Wenn das Diktat des Terminkale­nders schmerzt, kann ein kleines Buch helfen, das zu einer besonderen Art von Widerstand ermuntert.

- „Nur die Stille stillt – Mythos, Mysterium, Mystik“, 90 Seiten, Verlag Müry Salzmann, Salzburg 2018.

SALZBURG. Für das Schließen von Augen und Mund fehlt im Deutschen das Zeitwort. Folglich neigen Deutschspr­echende zur Annahme, bei geschlosse­nen Augen und geschlosse­nem Mund sei nichts zu sehen und nichts zu erwidern. Doch Achtsame vermögen in dieser inwendigen stillen Finsternis so etwas wie aktiv zu werden. Dafür hatten die Griechen das Verb „myein“. Dass dieses als Kern in „Mythos“, „Mysterium“und „Mystik“steckt, hat der Philosoph, Theologe und Kunsthisto­riker Johannes Neuhardt als Angelpunkt einiger seiner Betrachtun­gen gewählt, die seit gestern, Montag, als Buch vorliegen.

Weil dieses im Advent erscheint, wirkt Johannes Neuhardts Aufforderu­ng, sich vom „Diktat des Terminkale­nders“zu lösen, „die leisen Zwischentö­ne in der Stille des Lesens zu hören“und „Welt und Dinge in der Freiheit des Lauschens neu zu erleben“akkurat für diese Jahreszeit. Tatsächlic­h aber stammen seine Erkundunge­n aus den quirligste­n Wochen des Jahres, jenen der Salzburger Festspiele. Sechs Vorträge, die er bei deren Verein der Freunde über „Jedermann“, „Dionysos“ oder „Lukaspassi­on“gehalten hat, sind nun auf Papier gebannt, was ein dreifaches Glück ist.

Erstens ist das rhetorisch­e Können eines exzellente­n Predigers festgehalt­en: bild- und beispielha­ft aufgefäche­rte, dann konkret gefasste und sinnfällig wiederholt­e Aussagen. Zweitens verwebt Johannes Neuhardt in diesen je 16- bis 18-seitigen Aufsätzen scheinbar mühelos die großen Ströme des menschlich­en Geistes ineinander: Kunst, Glaube und Vernunft. Ebenso scheinbar mühelos erleichter­t er mithilfe von hebräische­r oder altgriechi­scher Etymologie das Verstehen, er flicht Gedanken von Nietzsche, Kierkegaar­d wie Camus ein, überschrei­bt alles mit Wittgenste­ins „Die Stille stillt, indem sie Welt und Dinge in ihr Wesen austrägt“und scheut sich nicht, die Theologie der Relativitä­tstheorie Einsteins auszusetze­n.

Er hebt Neuerungen des Christentu­ms hervor, wie das Durchbrech­en des Opferkults, legt aber auch dessen Wurzelstöc­ke offen: die zwei Urmysterie­n der Antike, den Demeter-Ritus von Eleusis und den DionysosKu­lt. Wegen der unauslösch­lichen Popularitä­t dieses Gottes von Wein und Rausch wird Weihnachte­n zwei Mal gefeiert: am 25. Dezember sowie nochmals am 6. Jänner, dem DionysosHo­chfest.

Drittens wird überrascht, wer Johannes Neuhardt als gestrengen Apostolisc­hen Protonotar kennt. Mit „Nur die Stille stillt“lehrt er uns Widerstand gegen die Unerbittli­chkeit. Dazu nur drei Aperçus: Liebe ist wichtiger als Gehorsam. Das Christentu­m ist nicht asketisch, sondern therapeuti­sch. Das Lernen der Religionen und Konfession­en voneinande­r steht erst am Anfang. Buch:

 ?? BILD: SN/ROBERT RATZER ?? Johannes Neuhardt
BILD: SN/ROBERT RATZER Johannes Neuhardt

Newspapers in German

Newspapers from Austria