Ein Leser kostet die Freiheit des Lauschens
Wenn das Diktat des Terminkalenders schmerzt, kann ein kleines Buch helfen, das zu einer besonderen Art von Widerstand ermuntert.
SALZBURG. Für das Schließen von Augen und Mund fehlt im Deutschen das Zeitwort. Folglich neigen Deutschsprechende zur Annahme, bei geschlossenen Augen und geschlossenem Mund sei nichts zu sehen und nichts zu erwidern. Doch Achtsame vermögen in dieser inwendigen stillen Finsternis so etwas wie aktiv zu werden. Dafür hatten die Griechen das Verb „myein“. Dass dieses als Kern in „Mythos“, „Mysterium“und „Mystik“steckt, hat der Philosoph, Theologe und Kunsthistoriker Johannes Neuhardt als Angelpunkt einiger seiner Betrachtungen gewählt, die seit gestern, Montag, als Buch vorliegen.
Weil dieses im Advent erscheint, wirkt Johannes Neuhardts Aufforderung, sich vom „Diktat des Terminkalenders“zu lösen, „die leisen Zwischentöne in der Stille des Lesens zu hören“und „Welt und Dinge in der Freiheit des Lauschens neu zu erleben“akkurat für diese Jahreszeit. Tatsächlich aber stammen seine Erkundungen aus den quirligsten Wochen des Jahres, jenen der Salzburger Festspiele. Sechs Vorträge, die er bei deren Verein der Freunde über „Jedermann“, „Dionysos“ oder „Lukaspassion“gehalten hat, sind nun auf Papier gebannt, was ein dreifaches Glück ist.
Erstens ist das rhetorische Können eines exzellenten Predigers festgehalten: bild- und beispielhaft aufgefächerte, dann konkret gefasste und sinnfällig wiederholte Aussagen. Zweitens verwebt Johannes Neuhardt in diesen je 16- bis 18-seitigen Aufsätzen scheinbar mühelos die großen Ströme des menschlichen Geistes ineinander: Kunst, Glaube und Vernunft. Ebenso scheinbar mühelos erleichtert er mithilfe von hebräischer oder altgriechischer Etymologie das Verstehen, er flicht Gedanken von Nietzsche, Kierkegaard wie Camus ein, überschreibt alles mit Wittgensteins „Die Stille stillt, indem sie Welt und Dinge in ihr Wesen austrägt“und scheut sich nicht, die Theologie der Relativitätstheorie Einsteins auszusetzen.
Er hebt Neuerungen des Christentums hervor, wie das Durchbrechen des Opferkults, legt aber auch dessen Wurzelstöcke offen: die zwei Urmysterien der Antike, den Demeter-Ritus von Eleusis und den DionysosKult. Wegen der unauslöschlichen Popularität dieses Gottes von Wein und Rausch wird Weihnachten zwei Mal gefeiert: am 25. Dezember sowie nochmals am 6. Jänner, dem DionysosHochfest.
Drittens wird überrascht, wer Johannes Neuhardt als gestrengen Apostolischen Protonotar kennt. Mit „Nur die Stille stillt“lehrt er uns Widerstand gegen die Unerbittlichkeit. Dazu nur drei Aperçus: Liebe ist wichtiger als Gehorsam. Das Christentum ist nicht asketisch, sondern therapeutisch. Das Lernen der Religionen und Konfessionen voneinander steht erst am Anfang. Buch: